nur ihr eigenster, fort und fort thatsächlich erhobener An- spruch formuliert.
Nun fragen wir weiter: aus welchem Quell im Men- schentum wird dieser eigene Anspruch der Religion begreiflich? Denn vom Menschen verlangt man, dass er Religion nicht bloss als etwas Aeusserliches habe oder sich zuzueignen trachte, sondern sie in sich, im eigenen Innersten finde; er selber soll religiös sein, in Religion leben, ein tieferes, eigeneres Leben als in irgend einem andern Erlebnis, etwa des Wahren, des Guten, des Schönen. Bildung hat man; das Wahre, Gute, Schöne, so weit es sich uns überhaupt erschliesst, bleibt immer, als "Objekt", ein uns Aeusseres; Religion lebt man; es genügt nicht einmal zu sagen, man erlebe sie; denn man ist nicht bloss dabei, um dann mehr oder weniger davon zu ergreifen und gleichsam an sich zu bringen, sondern man lebt sie unmittel- bar, sie ist nur da in unserem Selbstleben. Umso mehr muss der Quell der Religion im Menschen selbst aufgezeigt werden können.
Ich bezeichnete nun diesen Quell, nach Schleiermachers Vorgang, durch das Wort Gefühl. Bei der schillernden Natur dieses psychologischen Kunstworts, die auch in der Aesthetik Verwicklungen herbeiführte, ist es begreiflich, dass man, trotz aller beigegebenen Erklärungen, an diesem Worte sich ge- stossen hat; daher wird besonders hier eine weitere Aufhellung nötig sein.
Auch das Aesthetische hat unzweifelhaft eine nahe Be- ziehung zum Gefühl; obgleich uns schien, dass mit (frei ge- staltender) "Phantasie" sein Wesen unzweideutiger bezeichnet werde. Soweit aber Gefühl, ist es schlechthin nur Gestal- tungsgefühl. Zwar ist es gewiss auch Selbstgefühl, aber nur das Selbstgefühl im Gestalten, das Gefühl des Selbst als des Gestaltenden. Das ästhetische Gefühl haftet ganz allein an der Gestaltung, es lebt nur von ihr und in ihr; es erlischt, sobald die gestaltende Kraft (der Phantasie) erlahmt. Es ent- behrt deswegen auch eigentlich ganz des (im ausschliessenden Sinn) individuellen Charakters. Nicht, dass ich, und nicht der und jener, Herr dieser Gestaltung bin, ist sein Inhalt; das ist
nur ihr eigenster, fort und fort thatsächlich erhobener An- spruch formuliert.
Nun fragen wir weiter: aus welchem Quell im Men- schentum wird dieser eigene Anspruch der Religion begreiflich? Denn vom Menschen verlangt man, dass er Religion nicht bloss als etwas Aeusserliches habe oder sich zuzueignen trachte, sondern sie in sich, im eigenen Innersten finde; er selber soll religiös sein, in Religion leben, ein tieferes, eigeneres Leben als in irgend einem andern Erlebnis, etwa des Wahren, des Guten, des Schönen. Bildung hat man; das Wahre, Gute, Schöne, so weit es sich uns überhaupt erschliesst, bleibt immer, als „Objekt“, ein uns Aeusseres; Religion lebt man; es genügt nicht einmal zu sagen, man erlebe sie; denn man ist nicht bloss dabei, um dann mehr oder weniger davon zu ergreifen und gleichsam an sich zu bringen, sondern man lebt sie unmittel- bar, sie ist nur da in unserem Selbstleben. Umso mehr muss der Quell der Religion im Menschen selbst aufgezeigt werden können.
Ich bezeichnete nun diesen Quell, nach Schleiermachers Vorgang, durch das Wort Gefühl. Bei der schillernden Natur dieses psychologischen Kunstworts, die auch in der Aesthetik Verwicklungen herbeiführte, ist es begreiflich, dass man, trotz aller beigegebenen Erklärungen, an diesem Worte sich ge- stossen hat; daher wird besonders hier eine weitere Aufhellung nötig sein.
Auch das Aesthetische hat unzweifelhaft eine nahe Be- ziehung zum Gefühl; obgleich uns schien, dass mit (frei ge- staltender) „Phantasie“ sein Wesen unzweideutiger bezeichnet werde. Soweit aber Gefühl, ist es schlechthin nur Gestal- tungsgefühl. Zwar ist es gewiss auch Selbstgefühl, aber nur das Selbstgefühl im Gestalten, das Gefühl des Selbst als des Gestaltenden. Das ästhetische Gefühl haftet ganz allein an der Gestaltung, es lebt nur von ihr und in ihr; es erlischt, sobald die gestaltende Kraft (der Phantasie) erlahmt. Es ent- behrt deswegen auch eigentlich ganz des (im ausschliessenden Sinn) individuellen Charakters. Nicht, dass ich, und nicht der und jener, Herr dieser Gestaltung bin, ist sein Inhalt; das ist
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nur ihr eigenster, fort und fort thatsächlich erhobener An-
spruch formuliert.
Nun fragen wir weiter: aus welchem Quell im Men-
schentum wird dieser eigene Anspruch der Religion begreiflich?
Denn vom Menschen verlangt man, dass er Religion nicht
bloss als etwas Aeusserliches habe oder sich zuzueignen trachte,
sondern sie in sich, im eigenen Innersten finde; er selber
soll religiös sein, in Religion leben, ein tieferes, eigeneres
Leben als in irgend einem andern Erlebnis, etwa des Wahren,
des Guten, des Schönen. Bildung hat man; das Wahre, Gute,
Schöne, so weit es sich uns überhaupt erschliesst, bleibt immer,
als „Objekt“, ein uns Aeusseres; Religion lebt man; es genügt
nicht einmal zu sagen, man erlebe sie; denn man ist nicht bloss
dabei, um dann mehr oder weniger davon zu ergreifen und
gleichsam an sich zu bringen, sondern man lebt sie unmittel-
bar, sie ist nur da in unserem Selbstleben. Umso mehr
muss der Quell der Religion im Menschen selbst
aufgezeigt werden können.
Ich bezeichnete nun diesen Quell, nach Schleiermachers
Vorgang, durch das Wort Gefühl. Bei der schillernden Natur
dieses psychologischen Kunstworts, die auch in der Aesthetik
Verwicklungen herbeiführte, ist es begreiflich, dass man, trotz
aller beigegebenen Erklärungen, an diesem Worte sich ge-
stossen hat; daher wird besonders hier eine weitere Aufhellung
nötig sein.
Auch das Aesthetische hat unzweifelhaft eine nahe Be-
ziehung zum Gefühl; obgleich uns schien, dass mit (frei ge-
staltender) „Phantasie“ sein Wesen unzweideutiger bezeichnet
werde. Soweit aber Gefühl, ist es schlechthin nur Gestal-
tungsgefühl. Zwar ist es gewiss auch Selbstgefühl, aber
nur das Selbstgefühl im Gestalten, das Gefühl des Selbst als
des Gestaltenden. Das ästhetische Gefühl haftet ganz allein
an der Gestaltung, es lebt nur von ihr und in ihr; es erlischt,
sobald die gestaltende Kraft (der Phantasie) erlahmt. Es ent-
behrt deswegen auch eigentlich ganz des (im ausschliessenden
Sinn) individuellen Charakters. Nicht, dass ich, und nicht der
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/343>, abgerufen am 28.11.2024.
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