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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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nicht Genüge thut; die Tiefe des religiösen Lebens braucht
dabei nicht Schaden zu leiden. Sie möchte selbst in der Sitt-
lichkeit es nicht gar weit bringen -- auch die reinste mensch-
liche
Sittlichkeit befriedigt ja nicht ihre Ansprüche; so würde
selbst das nicht den Quell der Religion im menschlichen Herzen
verschütten; ja recht aus der Seele der Religion gesprochen
ist das Wort des Mystikers, das selbst die Sünde selig preist,
die einer solchen Erlösung (wie Religion sie bietet) wert sei.
Und vollends unwesentlich bleibt der Religion ihr symbolischer
Ausdruck, dessen Unzulänglichkeit von den ernst Religiösen
allzeit betont worden ist. Umgekehrt: der Mensch, der in
jenen objektivierenden Gestaltungen seine ganze Welt erblickt,
der Forscher in der rein aufs Objekt gerichteten Arbeit seiner
Forschung, der sittlich strebende Mensch, in eben diesem
Streben, als bloss auf sein Objekt, das menschlich Gute, ge-
richtet; vollends der künstlerische Mensch, ganz versenkt in
die Thätigkeit der ästhetischen Gestaltung, in jenes freie, rein
sich selber genügen wollende Spiel der gestaltenden Kräfte,
nichts darüber hinaus suchend noch verlangend, ist insoweit,
nach dem Urteil der Religiösen, nicht religiös, weiss nichts
von Religion. Auch wer das "Wahre, Gute, Schöne" in irgend
einer letzten Einheit zu verstehen glaubte und darin nun sein
Alles fände, auch der wäre, ja er vielleicht erst recht, für die
Auffassung des Religiösen ein irreligiöser Atheist. Er möchte
der vollkommen gebildete Mensch sein, so ist er damit
noch nicht im mindesten religiös. Also hatte Keppler nicht
recht, in seiner Astronomie, noch Michelangelo, in seiner Bild-
nerei seinen besten Gottesdienst zu sehen, noch ist es recht
gesagt von einem Goethe: Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
hat (damit und darin) auch Religion; es würde auch noch
nicht richtig, wenn man das vergessene Dritte, die humane
Sittlichkeit, hinzusetzte. Sondern auch wer das alles besitzt,
und nichts darüber, wird noch immer den Vorwurf der Irreli-
giosität erfahren, der denn auch gerade den wissenschaftlichsten,
den sittlichsten, den künstlerischsten Menschen niemals erspart
worden ist. Mit diesem allen ist -- das möge man nicht
missverstehen -- nichts für noch gegen Religion gesagt, es ist

nicht Genüge thut; die Tiefe des religiösen Lebens braucht
dabei nicht Schaden zu leiden. Sie möchte selbst in der Sitt-
lichkeit es nicht gar weit bringen — auch die reinste mensch-
liche
Sittlichkeit befriedigt ja nicht ihre Ansprüche; so würde
selbst das nicht den Quell der Religion im menschlichen Herzen
verschütten; ja recht aus der Seele der Religion gesprochen
ist das Wort des Mystikers, das selbst die Sünde selig preist,
die einer solchen Erlösung (wie Religion sie bietet) wert sei.
Und vollends unwesentlich bleibt der Religion ihr symbolischer
Ausdruck, dessen Unzulänglichkeit von den ernst Religiösen
allzeit betont worden ist. Umgekehrt: der Mensch, der in
jenen objektivierenden Gestaltungen seine ganze Welt erblickt,
der Forscher in der rein aufs Objekt gerichteten Arbeit seiner
Forschung, der sittlich strebende Mensch, in eben diesem
Streben, als bloss auf sein Objekt, das menschlich Gute, ge-
richtet; vollends der künstlerische Mensch, ganz versenkt in
die Thätigkeit der ästhetischen Gestaltung, in jenes freie, rein
sich selber genügen wollende Spiel der gestaltenden Kräfte,
nichts darüber hinaus suchend noch verlangend, ist insoweit,
nach dem Urteil der Religiösen, nicht religiös, weiss nichts
von Religion. Auch wer das „Wahre, Gute, Schöne“ in irgend
einer letzten Einheit zu verstehen glaubte und darin nun sein
Alles fände, auch der wäre, ja er vielleicht erst recht, für die
Auffassung des Religiösen ein irreligiöser Atheist. Er möchte
der vollkommen gebildete Mensch sein, so ist er damit
noch nicht im mindesten religiös. Also hatte Keppler nicht
recht, in seiner Astronomie, noch Michelangelo, in seiner Bild-
nerei seinen besten Gottesdienst zu sehen, noch ist es recht
gesagt von einem Goethe: Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
hat (damit und darin) auch Religion; es würde auch noch
nicht richtig, wenn man das vergessene Dritte, die humane
Sittlichkeit, hinzusetzte. Sondern auch wer das alles besitzt,
und nichts darüber, wird noch immer den Vorwurf der Irreli-
giosität erfahren, der denn auch gerade den wissenschaftlichsten,
den sittlichsten, den künstlerischsten Menschen niemals erspart
worden ist. Mit diesem allen ist — das möge man nicht
missverstehen — nichts für noch gegen Religion gesagt, es ist

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[326/0342] nicht Genüge thut; die Tiefe des religiösen Lebens braucht dabei nicht Schaden zu leiden. Sie möchte selbst in der Sitt- lichkeit es nicht gar weit bringen — auch die reinste mensch- liche Sittlichkeit befriedigt ja nicht ihre Ansprüche; so würde selbst das nicht den Quell der Religion im menschlichen Herzen verschütten; ja recht aus der Seele der Religion gesprochen ist das Wort des Mystikers, das selbst die Sünde selig preist, die einer solchen Erlösung (wie Religion sie bietet) wert sei. Und vollends unwesentlich bleibt der Religion ihr symbolischer Ausdruck, dessen Unzulänglichkeit von den ernst Religiösen allzeit betont worden ist. Umgekehrt: der Mensch, der in jenen objektivierenden Gestaltungen seine ganze Welt erblickt, der Forscher in der rein aufs Objekt gerichteten Arbeit seiner Forschung, der sittlich strebende Mensch, in eben diesem Streben, als bloss auf sein Objekt, das menschlich Gute, ge- richtet; vollends der künstlerische Mensch, ganz versenkt in die Thätigkeit der ästhetischen Gestaltung, in jenes freie, rein sich selber genügen wollende Spiel der gestaltenden Kräfte, nichts darüber hinaus suchend noch verlangend, ist insoweit, nach dem Urteil der Religiösen, nicht religiös, weiss nichts von Religion. Auch wer das „Wahre, Gute, Schöne“ in irgend einer letzten Einheit zu verstehen glaubte und darin nun sein Alles fände, auch der wäre, ja er vielleicht erst recht, für die Auffassung des Religiösen ein irreligiöser Atheist. Er möchte der vollkommen gebildete Mensch sein, so ist er damit noch nicht im mindesten religiös. Also hatte Keppler nicht recht, in seiner Astronomie, noch Michelangelo, in seiner Bild- nerei seinen besten Gottesdienst zu sehen, noch ist es recht gesagt von einem Goethe: Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat (damit und darin) auch Religion; es würde auch noch nicht richtig, wenn man das vergessene Dritte, die humane Sittlichkeit, hinzusetzte. Sondern auch wer das alles besitzt, und nichts darüber, wird noch immer den Vorwurf der Irreli- giosität erfahren, der denn auch gerade den wissenschaftlichsten, den sittlichsten, den künstlerischsten Menschen niemals erspart worden ist. Mit diesem allen ist — das möge man nicht missverstehen — nichts für noch gegen Religion gesagt, es ist

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/342>, abgerufen am 28.11.2024.