Erziehungsstufe vorzugsweise angemessen sein. Die Grenze macht der Zeitpunkt, wo nach Diotima in Platos Gastmahl (die schon fortwährend hier hätte angeführt werden können) der Drang zum Schönen aufs "hohe Meer" hinausstrebt: näm- lich aufs Ganze des inneren wie äusseren Universums, um durch die Suche nach ihrer letzten Einheit alsbald auf und über die Schwelle des Ideenreichs geführt zu werden. Soll er dabei nicht überschwänglich werden, so bedarf er des Rüst- zeugs der Kritik, jener Selbstkritik ästhetischer "Urteils- kraft", wie sie Kant und Schiller uns verstehen gelehrt haben. In ihr findet die ästhetische Bildung ihren Abschluss im gleichen Sinne wie die theoretische in der Kritik der theoretischen, die sittliche in der der sittlichen Vernunft; ihren Abschluss näm- lich in dem Sinne, dass die Zeit der Schulung damit sich voll- endet, deren Gewinn aber durchs ganze Leben sich erhalten und mehren und sichern soll.
So bewährt sich durchgängig die Harmonie der drei Grund- kräfte der Bewusstseinsgestaltung auch im Stufengang der Er- ziehung, so wie es nach ihrem inneren Verhältnis zu einander auch erwartet werden durfte. Auf Einzelausführungen ver- zichte ich, so lockend die Aufgabe ist, und so dienlich sie sein möchten, unsern Schlussfolgerungen, die hier allzu ausschliess- lich deduktiv konstruiert erscheinen müssen, etwas mehr Glauben zu verschaffen. Nur angedeutet sei, dass für das naive Alter folgerecht die mehr naive dichterische und bildnerische Gestal- tungsweise, also besonders die der Alten und was bei den Modernen dieser gleichartig ist, dagegen erst für die letzte Stufe die vollbewusste Weise der eigentlich modernen ästhe- tischen Schöpfung gehört; so wie in der Musik etwa für die erste Stufe Volkslied und Choral ausreichen, für die zweite die höchst formvolle, kunstverständige, in der Empfindungshöhe aber noch fast kindliche Gestaltungsweise Mozarts, aber auch die ersten Elemente der wie naturgesetzlich gefügten Polyphonik Bachs, dagegen z. B. Beethoven sicher erst für die dritte ge- hört; womit ich nicht vermeine irgendwem etwas Neues zu sagen, sondern nur darauf hindeuten will, mit welcher Sicher- heit hier die Praxis den Weg von selber eingeschlagen hat,
Erziehungsstufe vorzugsweise angemessen sein. Die Grenze macht der Zeitpunkt, wo nach Diotima in Platos Gastmahl (die schon fortwährend hier hätte angeführt werden können) der Drang zum Schönen aufs „hohe Meer“ hinausstrebt: näm- lich aufs Ganze des inneren wie äusseren Universums, um durch die Suche nach ihrer letzten Einheit alsbald auf und über die Schwelle des Ideenreichs geführt zu werden. Soll er dabei nicht überschwänglich werden, so bedarf er des Rüst- zeugs der Kritik, jener Selbstkritik ästhetischer „Urteils- kraft“, wie sie Kant und Schiller uns verstehen gelehrt haben. In ihr findet die ästhetische Bildung ihren Abschluss im gleichen Sinne wie die theoretische in der Kritik der theoretischen, die sittliche in der der sittlichen Vernunft; ihren Abschluss näm- lich in dem Sinne, dass die Zeit der Schulung damit sich voll- endet, deren Gewinn aber durchs ganze Leben sich erhalten und mehren und sichern soll.
So bewährt sich durchgängig die Harmonie der drei Grund- kräfte der Bewusstseinsgestaltung auch im Stufengang der Er- ziehung, so wie es nach ihrem inneren Verhältnis zu einander auch erwartet werden durfte. Auf Einzelausführungen ver- zichte ich, so lockend die Aufgabe ist, und so dienlich sie sein möchten, unsern Schlussfolgerungen, die hier allzu ausschliess- lich deduktiv konstruiert erscheinen müssen, etwas mehr Glauben zu verschaffen. Nur angedeutet sei, dass für das naive Alter folgerecht die mehr naive dichterische und bildnerische Gestal- tungsweise, also besonders die der Alten und was bei den Modernen dieser gleichartig ist, dagegen erst für die letzte Stufe die vollbewusste Weise der eigentlich modernen ästhe- tischen Schöpfung gehört; so wie in der Musik etwa für die erste Stufe Volkslied und Choral ausreichen, für die zweite die höchst formvolle, kunstverständige, in der Empfindungshöhe aber noch fast kindliche Gestaltungsweise Mozarts, aber auch die ersten Elemente der wie naturgesetzlich gefügten Polyphonik Bachs, dagegen z. B. Beethoven sicher erst für die dritte ge- hört; womit ich nicht vermeine irgendwem etwas Neues zu sagen, sondern nur darauf hindeuten will, mit welcher Sicher- heit hier die Praxis den Weg von selber eingeschlagen hat,
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Erziehungsstufe vorzugsweise angemessen sein. Die Grenze
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(die schon fortwährend hier hätte angeführt werden können)
der Drang zum Schönen aufs „hohe Meer“ hinausstrebt: näm-
lich aufs Ganze des inneren wie äusseren Universums, um
durch die Suche nach ihrer letzten Einheit alsbald auf und
über die Schwelle des Ideenreichs geführt zu werden. Soll er
dabei nicht überschwänglich werden, so bedarf er des Rüst-
zeugs der Kritik, jener Selbstkritik ästhetischer „Urteils-
kraft“, wie sie Kant und Schiller uns verstehen gelehrt haben.
In ihr findet die ästhetische Bildung ihren Abschluss im gleichen
Sinne wie die theoretische in der Kritik der theoretischen,
die sittliche in der der sittlichen Vernunft; ihren Abschluss näm-
lich in dem Sinne, dass die Zeit der Schulung damit sich voll-
endet, deren Gewinn aber durchs ganze Leben sich erhalten
und mehren und sichern soll.
So bewährt sich durchgängig die Harmonie der drei Grund-
kräfte der Bewusstseinsgestaltung auch im Stufengang der Er-
ziehung, so wie es nach ihrem inneren Verhältnis zu einander
auch erwartet werden durfte. Auf Einzelausführungen ver-
zichte ich, so lockend die Aufgabe ist, und so dienlich sie sein
möchten, unsern Schlussfolgerungen, die hier allzu ausschliess-
lich deduktiv konstruiert erscheinen müssen, etwas mehr Glauben
zu verschaffen. Nur angedeutet sei, dass für das naive Alter
folgerecht die mehr naive dichterische und bildnerische Gestal-
tungsweise, also besonders die der Alten und was bei den
Modernen dieser gleichartig ist, dagegen erst für die letzte
Stufe die vollbewusste Weise der eigentlich modernen ästhe-
tischen Schöpfung gehört; so wie in der Musik etwa für die
erste Stufe Volkslied und Choral ausreichen, für die zweite
die höchst formvolle, kunstverständige, in der Empfindungshöhe
aber noch fast kindliche Gestaltungsweise Mozarts, aber auch
die ersten Elemente der wie naturgesetzlich gefügten Polyphonik
Bachs, dagegen z. B. Beethoven sicher erst für die dritte ge-
hört; womit ich nicht vermeine irgendwem etwas Neues zu
sagen, sondern nur darauf hindeuten will, mit welcher Sicher-
heit hier die Praxis den Weg von selber eingeschlagen hat,
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/339>, abgerufen am 28.11.2024.
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