Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht gebildet; seine Schöpfungen gehörten nur dem Augenblick.
Dabei soll es nicht bleiben. Nichts Geringeres ist die Auf-
gabe als Natur selbst unter die Herrschaft der ästhe-
tischen Form zu zwingen
, der sie doch sich zu weigern
scheint. Da gilt es, ihr tapfer zu Leibe zu rücken mit der
scharf geschliffenen Waffe der Technik. Das ist die Seite,
die das Aesthetische dem Unterricht bietet; also gehört es auch
in das Alter des Unterrichts. Die ästhetische Thätigkeit selbst
braucht der Disziplin. Diese ästhetische Disziplin aber
findet Anknüpfungen in allen Gebieten des Unterrichts, über-
dies in der ganzen Organisation des Schullebens. Mathematik
und Naturkunde, Naturgeschichte, besonders in der mit grossem
Recht jetzt betonten Verbindung mit Heimatkunde, die den
Sinn fürs Naturschöne vom Kleinsten des Pflanzenwuchses und
der mineralogischen Bildungen bis zum Grossen der Land-
schaft, ja zur Ahnung eines ästhetischen Universums anzuregen
unerschöpfliche Kräfte zur Verfügung hat; und wiederum fast
der ganze Inhalt des sprachlichen und geschichtlichen Unter-
richts, der ein andres Universum, das Universum des Innern,
in oft ja schon direkt ästhetischen Formen erschliesst; dazu
Zeichnen (nebst Modellieren) und Gesang, die ganz unmittelbar
die ersten Stufen der Kunsttechnik erklimmen lehren; aber
auch Leibespflege und Spiel -- was überhaupt, das der Unter-
richt in rechtem Verhältnis zum Ganzen der menschlichen Bil-
dung böte, könnte verfehlen dem schon regen ästhetischen Sinn
neue und neue Nahrung zuzuführen, oder den noch schlum-
mernden zu wecken? Und wenn damit allerdings noch nicht
unmittelbar auch sittliches Leben gepflanzt wird noch werden
soll, so würde doch die ganze geistige Befreiung, die in
einem so durch die Selbstthätigkeit der Zöglinge ästhetisch
gestalteten Unterricht läge, der Entwicklung des sittlichen
Bewusstseins zur gleichen Autonomie unfraglich zu gute kommen;
unter der Voraussetzung freilich, dass die sonstigen, so viel-
fältigen Bedingungen dieser sittlichen Entwicklung nicht fehlen
oder gar direkt entgegengesetzte Einflüsse vorwalten.

Wie aber der realistische Faktor der ästhetischen Bildung
der zweiten, so möchte der rein idealistische der dritten

nicht gebildet; seine Schöpfungen gehörten nur dem Augenblick.
Dabei soll es nicht bleiben. Nichts Geringeres ist die Auf-
gabe als Natur selbst unter die Herrschaft der ästhe-
tischen Form zu zwingen
, der sie doch sich zu weigern
scheint. Da gilt es, ihr tapfer zu Leibe zu rücken mit der
scharf geschliffenen Waffe der Technik. Das ist die Seite,
die das Aesthetische dem Unterricht bietet; also gehört es auch
in das Alter des Unterrichts. Die ästhetische Thätigkeit selbst
braucht der Disziplin. Diese ästhetische Disziplin aber
findet Anknüpfungen in allen Gebieten des Unterrichts, über-
dies in der ganzen Organisation des Schullebens. Mathematik
und Naturkunde, Naturgeschichte, besonders in der mit grossem
Recht jetzt betonten Verbindung mit Heimatkunde, die den
Sinn fürs Naturschöne vom Kleinsten des Pflanzenwuchses und
der mineralogischen Bildungen bis zum Grossen der Land-
schaft, ja zur Ahnung eines ästhetischen Universums anzuregen
unerschöpfliche Kräfte zur Verfügung hat; und wiederum fast
der ganze Inhalt des sprachlichen und geschichtlichen Unter-
richts, der ein andres Universum, das Universum des Innern,
in oft ja schon direkt ästhetischen Formen erschliesst; dazu
Zeichnen (nebst Modellieren) und Gesang, die ganz unmittelbar
die ersten Stufen der Kunsttechnik erklimmen lehren; aber
auch Leibespflege und Spiel — was überhaupt, das der Unter-
richt in rechtem Verhältnis zum Ganzen der menschlichen Bil-
dung böte, könnte verfehlen dem schon regen ästhetischen Sinn
neue und neue Nahrung zuzuführen, oder den noch schlum-
mernden zu wecken? Und wenn damit allerdings noch nicht
unmittelbar auch sittliches Leben gepflanzt wird noch werden
soll, so würde doch die ganze geistige Befreiung, die in
einem so durch die Selbstthätigkeit der Zöglinge ästhetisch
gestalteten Unterricht läge, der Entwicklung des sittlichen
Bewusstseins zur gleichen Autonomie unfraglich zu gute kommen;
unter der Voraussetzung freilich, dass die sonstigen, so viel-
fältigen Bedingungen dieser sittlichen Entwicklung nicht fehlen
oder gar direkt entgegengesetzte Einflüsse vorwalten.

Wie aber der realistische Faktor der ästhetischen Bildung
der zweiten, so möchte der rein idealistische der dritten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0338" n="322"/>
nicht gebildet; seine Schöpfungen gehörten nur dem Augenblick.<lb/>
Dabei soll es nicht bleiben. Nichts Geringeres ist die Auf-<lb/>
gabe als <hi rendition="#g">Natur selbst unter die Herrschaft der ästhe-<lb/>
tischen Form zu zwingen</hi>, der sie doch sich zu weigern<lb/>
scheint. Da gilt es, ihr tapfer zu Leibe zu rücken mit der<lb/>
scharf geschliffenen Waffe der <hi rendition="#g">Technik</hi>. Das ist die Seite,<lb/>
die das Aesthetische dem Unterricht bietet; also gehört es auch<lb/>
in das Alter des Unterrichts. Die ästhetische Thätigkeit selbst<lb/>
braucht der <hi rendition="#g">Disziplin</hi>. Diese ästhetische Disziplin aber<lb/>
findet Anknüpfungen in allen Gebieten des Unterrichts, über-<lb/>
dies in der ganzen Organisation des Schullebens. Mathematik<lb/>
und Naturkunde, Naturgeschichte, besonders in der mit grossem<lb/>
Recht jetzt betonten Verbindung mit Heimatkunde, die den<lb/>
Sinn fürs Naturschöne vom Kleinsten des Pflanzenwuchses und<lb/>
der mineralogischen Bildungen bis zum Grossen der Land-<lb/>
schaft, ja zur Ahnung eines ästhetischen Universums anzuregen<lb/>
unerschöpfliche Kräfte zur Verfügung hat; und wiederum fast<lb/>
der ganze Inhalt des sprachlichen und geschichtlichen Unter-<lb/>
richts, der ein andres Universum, das Universum des Innern,<lb/>
in oft ja schon direkt ästhetischen Formen erschliesst; dazu<lb/>
Zeichnen (nebst Modellieren) und Gesang, die ganz unmittelbar<lb/>
die ersten Stufen der Kunsttechnik erklimmen lehren; aber<lb/>
auch Leibespflege und Spiel &#x2014; was überhaupt, das der Unter-<lb/>
richt in rechtem Verhältnis zum Ganzen der menschlichen Bil-<lb/>
dung böte, könnte verfehlen dem schon regen ästhetischen Sinn<lb/>
neue und neue Nahrung zuzuführen, oder den noch schlum-<lb/>
mernden zu wecken? Und wenn damit allerdings noch nicht<lb/>
unmittelbar auch sittliches Leben gepflanzt wird noch werden<lb/>
soll, so würde doch die ganze geistige <hi rendition="#g">Befreiung</hi>, die in<lb/>
einem so durch die Selbstthätigkeit der Zöglinge ästhetisch<lb/>
gestalteten Unterricht läge, der Entwicklung des sittlichen<lb/>
Bewusstseins zur gleichen Autonomie unfraglich zu gute kommen;<lb/>
unter der Voraussetzung freilich, dass die sonstigen, so viel-<lb/>
fältigen Bedingungen dieser sittlichen Entwicklung nicht fehlen<lb/>
oder gar direkt entgegengesetzte Einflüsse vorwalten.</p><lb/>
          <p>Wie aber der realistische Faktor der ästhetischen Bildung<lb/>
der zweiten, so möchte der rein <hi rendition="#g">idealistische</hi> der dritten<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[322/0338] nicht gebildet; seine Schöpfungen gehörten nur dem Augenblick. Dabei soll es nicht bleiben. Nichts Geringeres ist die Auf- gabe als Natur selbst unter die Herrschaft der ästhe- tischen Form zu zwingen, der sie doch sich zu weigern scheint. Da gilt es, ihr tapfer zu Leibe zu rücken mit der scharf geschliffenen Waffe der Technik. Das ist die Seite, die das Aesthetische dem Unterricht bietet; also gehört es auch in das Alter des Unterrichts. Die ästhetische Thätigkeit selbst braucht der Disziplin. Diese ästhetische Disziplin aber findet Anknüpfungen in allen Gebieten des Unterrichts, über- dies in der ganzen Organisation des Schullebens. Mathematik und Naturkunde, Naturgeschichte, besonders in der mit grossem Recht jetzt betonten Verbindung mit Heimatkunde, die den Sinn fürs Naturschöne vom Kleinsten des Pflanzenwuchses und der mineralogischen Bildungen bis zum Grossen der Land- schaft, ja zur Ahnung eines ästhetischen Universums anzuregen unerschöpfliche Kräfte zur Verfügung hat; und wiederum fast der ganze Inhalt des sprachlichen und geschichtlichen Unter- richts, der ein andres Universum, das Universum des Innern, in oft ja schon direkt ästhetischen Formen erschliesst; dazu Zeichnen (nebst Modellieren) und Gesang, die ganz unmittelbar die ersten Stufen der Kunsttechnik erklimmen lehren; aber auch Leibespflege und Spiel — was überhaupt, das der Unter- richt in rechtem Verhältnis zum Ganzen der menschlichen Bil- dung böte, könnte verfehlen dem schon regen ästhetischen Sinn neue und neue Nahrung zuzuführen, oder den noch schlum- mernden zu wecken? Und wenn damit allerdings noch nicht unmittelbar auch sittliches Leben gepflanzt wird noch werden soll, so würde doch die ganze geistige Befreiung, die in einem so durch die Selbstthätigkeit der Zöglinge ästhetisch gestalteten Unterricht läge, der Entwicklung des sittlichen Bewusstseins zur gleichen Autonomie unfraglich zu gute kommen; unter der Voraussetzung freilich, dass die sonstigen, so viel- fältigen Bedingungen dieser sittlichen Entwicklung nicht fehlen oder gar direkt entgegengesetzte Einflüsse vorwalten. Wie aber der realistische Faktor der ästhetischen Bildung der zweiten, so möchte der rein idealistische der dritten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/338
Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/338>, abgerufen am 11.05.2024.