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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Ernste der Arbeit muss nicht diesen ästhetischen Grundzug
des ganzen kindlichen Daseins durchaus verwischen. Allerdings
ist der Unterschied eben der des Sittlichen vom bloss Aesthe-
tischen: Arbeit bleibt gefordert, auch wo es nicht möglich ist,
sie zugleich ästhetisch zu gestalten. Aber es ist darum mit
nicht geringerem Nachdruck zu verlangen, dass sie ästhetisch
gestaltet werde, soweit es irgend möglich ist. Es ist ein
vielleicht sehr fernes, aber darum nicht weniger richtiges Ideal,
dass sich einmal selbst "aus allen Bauern und Handwerkern
Künstler bilden liessen, d. h. Menschen, die ihr Gewerbe um
ihres Gewerbes willen liebten, durch eigen gelenkte Kraft und
eigene Erfindsamkeit verbesserten, und dadurch ihre intellek-
tuellen Kräfte kultivierten, ihren Charakter veredelten, ihre
Genüsse erhöhten", und so "die Menschheit durch eben die
Dinge geadelt" würde, "die jetzt, wie schön sie auch an sich
sind, so oft dazu dienen, sie zu entehren". Dies Ideal eines
Wilhelm v. Humboldt*) ist auch das Pestalozzis, der
von den Kindern der Maurersfrau in seinem Roman berichtet:
"Sie spinnen so eifrig als kaum eine Taglöhnerin spinnt, aber
ihre Seelen taglöhnern nicht. Sie bewegen sich während
der ununterbrochenen Gleichheit ihrer leiblichen Bewegung so
leicht und frei wie der Fisch im Wasser, und so froh wie die
Lerche, die in den Lüften ihren Triller spielt."**) Mag aber
auch dies Ideal heute für den Arbeiter allgemein nicht erfüllbar
sein, für das arbeitende Kind wenigstens muss es erfüllbar sein.
Auch die Gemeinschaft der Kinder unter sich und mit kind-
lichen Menschen drängt geradezu zu einem Rhythmus der
Thätigkeiten, heissen sie nun Arbeit oder Spiel, und damit zu
aller kindlichen Lyrik, Epik und Dramatik, Musik und Orchestik,
kurz zu allem Aesthetischen. Fröbel hatte davon wohl etwas
erkannt; aber es gehörte ein ganzer Künstler dazu, es nach
allen Seiten auszuführen. Dass das zum Guten wirkt, dar-
über ist man wohl einig; worin aber der Grund dieser Wir-
kung liegt, sagen in ganz übereinstimmendem Sinne die ge-

*) Grenzen der Wirksamkeit des Staats, bei Reclam S. 38.
**) Vgl. Pestalozzis Ideen etc. S. 29 f., Religion etc. S. 13 f.

Ernste der Arbeit muss nicht diesen ästhetischen Grundzug
des ganzen kindlichen Daseins durchaus verwischen. Allerdings
ist der Unterschied eben der des Sittlichen vom bloss Aesthe-
tischen: Arbeit bleibt gefordert, auch wo es nicht möglich ist,
sie zugleich ästhetisch zu gestalten. Aber es ist darum mit
nicht geringerem Nachdruck zu verlangen, dass sie ästhetisch
gestaltet werde, soweit es irgend möglich ist. Es ist ein
vielleicht sehr fernes, aber darum nicht weniger richtiges Ideal,
dass sich einmal selbst „aus allen Bauern und Handwerkern
Künstler bilden liessen, d. h. Menschen, die ihr Gewerbe um
ihres Gewerbes willen liebten, durch eigen gelenkte Kraft und
eigene Erfindsamkeit verbesserten, und dadurch ihre intellek-
tuellen Kräfte kultivierten, ihren Charakter veredelten, ihre
Genüsse erhöhten“, und so „die Menschheit durch eben die
Dinge geadelt“ würde, „die jetzt, wie schön sie auch an sich
sind, so oft dazu dienen, sie zu entehren“. Dies Ideal eines
Wilhelm v. Humboldt*) ist auch das Pestalozzis, der
von den Kindern der Maurersfrau in seinem Roman berichtet:
„Sie spinnen so eifrig als kaum eine Taglöhnerin spinnt, aber
ihre Seelen taglöhnern nicht. Sie bewegen sich während
der ununterbrochenen Gleichheit ihrer leiblichen Bewegung so
leicht und frei wie der Fisch im Wasser, und so froh wie die
Lerche, die in den Lüften ihren Triller spielt.“**) Mag aber
auch dies Ideal heute für den Arbeiter allgemein nicht erfüllbar
sein, für das arbeitende Kind wenigstens muss es erfüllbar sein.
Auch die Gemeinschaft der Kinder unter sich und mit kind-
lichen Menschen drängt geradezu zu einem Rhythmus der
Thätigkeiten, heissen sie nun Arbeit oder Spiel, und damit zu
aller kindlichen Lyrik, Epik und Dramatik, Musik und Orchestik,
kurz zu allem Aesthetischen. Fröbel hatte davon wohl etwas
erkannt; aber es gehörte ein ganzer Künstler dazu, es nach
allen Seiten auszuführen. Dass das zum Guten wirkt, dar-
über ist man wohl einig; worin aber der Grund dieser Wir-
kung liegt, sagen in ganz übereinstimmendem Sinne die ge-

*) Grenzen der Wirksamkeit des Staats, bei Reclam S. 38.
**) Vgl. Pestalozzis Ideen etc. S. 29 f., Religion etc. S. 13 f.
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[320/0336] Ernste der Arbeit muss nicht diesen ästhetischen Grundzug des ganzen kindlichen Daseins durchaus verwischen. Allerdings ist der Unterschied eben der des Sittlichen vom bloss Aesthe- tischen: Arbeit bleibt gefordert, auch wo es nicht möglich ist, sie zugleich ästhetisch zu gestalten. Aber es ist darum mit nicht geringerem Nachdruck zu verlangen, dass sie ästhetisch gestaltet werde, soweit es irgend möglich ist. Es ist ein vielleicht sehr fernes, aber darum nicht weniger richtiges Ideal, dass sich einmal selbst „aus allen Bauern und Handwerkern Künstler bilden liessen, d. h. Menschen, die ihr Gewerbe um ihres Gewerbes willen liebten, durch eigen gelenkte Kraft und eigene Erfindsamkeit verbesserten, und dadurch ihre intellek- tuellen Kräfte kultivierten, ihren Charakter veredelten, ihre Genüsse erhöhten“, und so „die Menschheit durch eben die Dinge geadelt“ würde, „die jetzt, wie schön sie auch an sich sind, so oft dazu dienen, sie zu entehren“. Dies Ideal eines Wilhelm v. Humboldt *) ist auch das Pestalozzis, der von den Kindern der Maurersfrau in seinem Roman berichtet: „Sie spinnen so eifrig als kaum eine Taglöhnerin spinnt, aber ihre Seelen taglöhnern nicht. Sie bewegen sich während der ununterbrochenen Gleichheit ihrer leiblichen Bewegung so leicht und frei wie der Fisch im Wasser, und so froh wie die Lerche, die in den Lüften ihren Triller spielt.“ **) Mag aber auch dies Ideal heute für den Arbeiter allgemein nicht erfüllbar sein, für das arbeitende Kind wenigstens muss es erfüllbar sein. Auch die Gemeinschaft der Kinder unter sich und mit kind- lichen Menschen drängt geradezu zu einem Rhythmus der Thätigkeiten, heissen sie nun Arbeit oder Spiel, und damit zu aller kindlichen Lyrik, Epik und Dramatik, Musik und Orchestik, kurz zu allem Aesthetischen. Fröbel hatte davon wohl etwas erkannt; aber es gehörte ein ganzer Künstler dazu, es nach allen Seiten auszuführen. Dass das zum Guten wirkt, dar- über ist man wohl einig; worin aber der Grund dieser Wir- kung liegt, sagen in ganz übereinstimmendem Sinne die ge- *) Grenzen der Wirksamkeit des Staats, bei Reclam S. 38. **) Vgl. Pestalozzis Ideen etc. S. 29 f., Religion etc. S. 13 f.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/336>, abgerufen am 28.11.2024.