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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Willens selbst. Aber natürlich kommt es auch dieser zu gute,
wenn der Wille das Gemüt in einer ihm günstigen und gleich-
sam entgegenkommenden Verfassung findet. Die höchste An-
erkennung und Nachfolge verdient aber, dass bereits Plato die
Frage sogleich auf sozialem Boden stellt und beantwortet.
In der That, wenn das Haus und die Schule auch ungleich
grössere Anstrengungen in dieser Hinsicht machten, als es meist
hat geschehen können, selbst ihr vereinter Einflusss würde sich
doch nur mühsam behaupten gegen einen dieser Wirkung wider-
strebenden Einfluss der weiteren Gemeinschaft; während ein
erhöhtes ästhetisches Niveau der letzteren auch auf Schule und
Haus unwiderstehlich zurückwirken würde. So sehen wir uns
selbst von seiten der Aesthetik auf die sozialen Bedingungen
der Erziehung hingewiesen.

Weit direkter indessen ist doch die Wirkung der eigenen
Bethätigung des Zöglings in ästhetischer Richtung; so wie alle
Selbstthätigkeit, da sie unmittelbar den Willen in Anspruch
nimmt, auch zu seiner Entwicklung unmittelbar beitragen muss.
Sehr klar liegt aber hier der tiefste Zusammenhang im Formalen,
im Vordringen zur autonomen Gestaltung. In diesem Be-
tracht möchte sogar richtig sein, dass ohne einen Funken
ästhetischer Freiheit wenigstens zu den höheren Stufen der
Sittlichkeit nicht zu gelangen ist. Höchste sittliche Erhebung
erfordert ohne Zweifel auch die Schwingen der Phantasie. Es
ist kein Zufall, dass der höchste Idealismus der Sittlichkeit
die Jahrtausende der Menschengeschichte hindurch an ihm ge-
mässen ästhetischen Schöpfungen seinen Halt gesucht hat.

Um aber hier am schlichtesten Anfang zu beginnen, so
stellt ja das freie Spiel des sich selbst überlassenen frohgemuten
Kindes, wie schon bemerkt, ein sehr reines Beispiel ästhetischen
Thuns dar. Ist Kunst, nach Schiller, überhaupt Spiel, ist sein
erstes Kennzeichen der "aufrichtige Schein", so ist dem un-
verdorbenen Kinde beides, der Schein und die Aufrichtigkeit,
gleich natürlich. Ist aber das Kind wohl je zu allem in seinem
Bereiche liegenden Guten mehr aufgelegt als in der seligen
Unbefangenheit des Spiels?

Aber auch der fast unmerkliche Uebergang vom Spiel zum

Willens selbst. Aber natürlich kommt es auch dieser zu gute,
wenn der Wille das Gemüt in einer ihm günstigen und gleich-
sam entgegenkommenden Verfassung findet. Die höchste An-
erkennung und Nachfolge verdient aber, dass bereits Plato die
Frage sogleich auf sozialem Boden stellt und beantwortet.
In der That, wenn das Haus und die Schule auch ungleich
grössere Anstrengungen in dieser Hinsicht machten, als es meist
hat geschehen können, selbst ihr vereinter Einflusss würde sich
doch nur mühsam behaupten gegen einen dieser Wirkung wider-
strebenden Einfluss der weiteren Gemeinschaft; während ein
erhöhtes ästhetisches Niveau der letzteren auch auf Schule und
Haus unwiderstehlich zurückwirken würde. So sehen wir uns
selbst von seiten der Aesthetik auf die sozialen Bedingungen
der Erziehung hingewiesen.

Weit direkter indessen ist doch die Wirkung der eigenen
Bethätigung des Zöglings in ästhetischer Richtung; so wie alle
Selbstthätigkeit, da sie unmittelbar den Willen in Anspruch
nimmt, auch zu seiner Entwicklung unmittelbar beitragen muss.
Sehr klar liegt aber hier der tiefste Zusammenhang im Formalen,
im Vordringen zur autonomen Gestaltung. In diesem Be-
tracht möchte sogar richtig sein, dass ohne einen Funken
ästhetischer Freiheit wenigstens zu den höheren Stufen der
Sittlichkeit nicht zu gelangen ist. Höchste sittliche Erhebung
erfordert ohne Zweifel auch die Schwingen der Phantasie. Es
ist kein Zufall, dass der höchste Idealismus der Sittlichkeit
die Jahrtausende der Menschengeschichte hindurch an ihm ge-
mässen ästhetischen Schöpfungen seinen Halt gesucht hat.

Um aber hier am schlichtesten Anfang zu beginnen, so
stellt ja das freie Spiel des sich selbst überlassenen frohgemuten
Kindes, wie schon bemerkt, ein sehr reines Beispiel ästhetischen
Thuns dar. Ist Kunst, nach Schiller, überhaupt Spiel, ist sein
erstes Kennzeichen der „aufrichtige Schein“, so ist dem un-
verdorbenen Kinde beides, der Schein und die Aufrichtigkeit,
gleich natürlich. Ist aber das Kind wohl je zu allem in seinem
Bereiche liegenden Guten mehr aufgelegt als in der seligen
Unbefangenheit des Spiels?

Aber auch der fast unmerkliche Uebergang vom Spiel zum

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[319/0335] Willens selbst. Aber natürlich kommt es auch dieser zu gute, wenn der Wille das Gemüt in einer ihm günstigen und gleich- sam entgegenkommenden Verfassung findet. Die höchste An- erkennung und Nachfolge verdient aber, dass bereits Plato die Frage sogleich auf sozialem Boden stellt und beantwortet. In der That, wenn das Haus und die Schule auch ungleich grössere Anstrengungen in dieser Hinsicht machten, als es meist hat geschehen können, selbst ihr vereinter Einflusss würde sich doch nur mühsam behaupten gegen einen dieser Wirkung wider- strebenden Einfluss der weiteren Gemeinschaft; während ein erhöhtes ästhetisches Niveau der letzteren auch auf Schule und Haus unwiderstehlich zurückwirken würde. So sehen wir uns selbst von seiten der Aesthetik auf die sozialen Bedingungen der Erziehung hingewiesen. Weit direkter indessen ist doch die Wirkung der eigenen Bethätigung des Zöglings in ästhetischer Richtung; so wie alle Selbstthätigkeit, da sie unmittelbar den Willen in Anspruch nimmt, auch zu seiner Entwicklung unmittelbar beitragen muss. Sehr klar liegt aber hier der tiefste Zusammenhang im Formalen, im Vordringen zur autonomen Gestaltung. In diesem Be- tracht möchte sogar richtig sein, dass ohne einen Funken ästhetischer Freiheit wenigstens zu den höheren Stufen der Sittlichkeit nicht zu gelangen ist. Höchste sittliche Erhebung erfordert ohne Zweifel auch die Schwingen der Phantasie. Es ist kein Zufall, dass der höchste Idealismus der Sittlichkeit die Jahrtausende der Menschengeschichte hindurch an ihm ge- mässen ästhetischen Schöpfungen seinen Halt gesucht hat. Um aber hier am schlichtesten Anfang zu beginnen, so stellt ja das freie Spiel des sich selbst überlassenen frohgemuten Kindes, wie schon bemerkt, ein sehr reines Beispiel ästhetischen Thuns dar. Ist Kunst, nach Schiller, überhaupt Spiel, ist sein erstes Kennzeichen der „aufrichtige Schein“, so ist dem un- verdorbenen Kinde beides, der Schein und die Aufrichtigkeit, gleich natürlich. Ist aber das Kind wohl je zu allem in seinem Bereiche liegenden Guten mehr aufgelegt als in der seligen Unbefangenheit des Spiels? Aber auch der fast unmerkliche Uebergang vom Spiel zum

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/335>, abgerufen am 11.05.2024.