Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

ja zuerst und zuletzt, individuell ist. Deswegen verlangt die
Kunst, und sucht sogar, gerade wo sie zu ihrer höchsten Höhe
sich erhebt, das bis hart an die Grenzen des Erträglichen
Erschütternde, ja Vernichtende auf. Sie darf es, eben
weil und wenn sie stets die göttliche Ueberlegenheit des
Spiels selbst ihm gegenüber bewahrt: die überlegene Gestal-
tung selbst befriedigt sich, sogar in der Darstellung eines Ob-
jekts, das, wenn wirklich, uns vernichten würde.

So haben Tiefblickende uns die ästhetische Welt begreifen
gelehrt. Und nun dürfen wir die Frage aufnehmen, was denn
die ästhetische Bildung zur Erziehung des Willens bei-
trägt.

Voraus thut reinliche Scheidung not. So wie die Rein-
heit des Sittlichen Schaden leidet, wenn man es dem Aesthe-
tischen unterordnet, obgleich es gewissermaassen in ihm ein-
geschlossen ist, so verwirrend ist wiederum jede Auffassung,
welche das Aesthetische bloss als dienendes Mittel der Sitt-
lichkeit zu würdigen weiss. Es ist zulässig und auch von
uns zugelassen worden, Stoffe der Dichtung zu moralischer
Belehrung zu verwenden. Aber es ist scharf zu betonen, dass
dies nur von den Stoffen gilt. Zuvor muss die Dichtung rein
für sich, als ästhetische Schöpfung, zur Geltung gekommen
sein. Das kann sie aber nicht, wenn sie von Anfang an bloss
als Unterlage moralisierender Betrachtung dargeboten wird.
Das gilt schon von der Verwendung des Märchens, der Fabel,
der biblischen Erzählung, und so erst recht vom Homer und
allem, was ausdrücklich als Dichtung auftritt.

Sogar ist gerade die reine sittliche Wirkung des Aesthe-
tischen bedingt durch seine deutlichste Scheidung vom Sitt-
lichen selbst. Denn es hilft zum Sittlichen so und nur so
wie in ihrem harmonischen Verhältnis zu einander alle seeli-
schen Kräfte sich helfen; zu ihrer Harmonie gehört aber, wie
zur musikalischen, dass die Elemente, zwischen denen Har-
monie stattfinden soll, sich nicht verwirren, sondern deutlich
von einander abheben. Am engsten ist wohl die Berührung
des Sittlichen mit dem Aesthetischen in der Tugend des Maasses,
die den Griechen völlig mit dem "Schönen" der Seele zusam-

ja zuerst und zuletzt, individuell ist. Deswegen verlangt die
Kunst, und sucht sogar, gerade wo sie zu ihrer höchsten Höhe
sich erhebt, das bis hart an die Grenzen des Erträglichen
Erschütternde, ja Vernichtende auf. Sie darf es, eben
weil und wenn sie stets die göttliche Ueberlegenheit des
Spiels selbst ihm gegenüber bewahrt: die überlegene Gestal-
tung selbst befriedigt sich, sogar in der Darstellung eines Ob-
jekts, das, wenn wirklich, uns vernichten würde.

So haben Tiefblickende uns die ästhetische Welt begreifen
gelehrt. Und nun dürfen wir die Frage aufnehmen, was denn
die ästhetische Bildung zur Erziehung des Willens bei-
trägt.

Voraus thut reinliche Scheidung not. So wie die Rein-
heit des Sittlichen Schaden leidet, wenn man es dem Aesthe-
tischen unterordnet, obgleich es gewissermaassen in ihm ein-
geschlossen ist, so verwirrend ist wiederum jede Auffassung,
welche das Aesthetische bloss als dienendes Mittel der Sitt-
lichkeit zu würdigen weiss. Es ist zulässig und auch von
uns zugelassen worden, Stoffe der Dichtung zu moralischer
Belehrung zu verwenden. Aber es ist scharf zu betonen, dass
dies nur von den Stoffen gilt. Zuvor muss die Dichtung rein
für sich, als ästhetische Schöpfung, zur Geltung gekommen
sein. Das kann sie aber nicht, wenn sie von Anfang an bloss
als Unterlage moralisierender Betrachtung dargeboten wird.
Das gilt schon von der Verwendung des Märchens, der Fabel,
der biblischen Erzählung, und so erst recht vom Homer und
allem, was ausdrücklich als Dichtung auftritt.

Sogar ist gerade die reine sittliche Wirkung des Aesthe-
tischen bedingt durch seine deutlichste Scheidung vom Sitt-
lichen selbst. Denn es hilft zum Sittlichen so und nur so
wie in ihrem harmonischen Verhältnis zu einander alle seeli-
schen Kräfte sich helfen; zu ihrer Harmonie gehört aber, wie
zur musikalischen, dass die Elemente, zwischen denen Har-
monie stattfinden soll, sich nicht verwirren, sondern deutlich
von einander abheben. Am engsten ist wohl die Berührung
des Sittlichen mit dem Aesthetischen in der Tugend des Maasses,
die den Griechen völlig mit dem „Schönen“ der Seele zusam-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0333" n="317"/>
ja zuerst und zuletzt, individuell ist. Deswegen verlangt die<lb/>
Kunst, und sucht sogar, gerade wo sie zu ihrer höchsten Höhe<lb/>
sich erhebt, das bis hart an die Grenzen des Erträglichen<lb/><hi rendition="#g">Erschütternde</hi>, ja Vernichtende auf. Sie darf es, eben<lb/>
weil und <hi rendition="#g">wenn</hi> sie stets die göttliche Ueberlegenheit des<lb/>
Spiels selbst ihm gegenüber bewahrt: die überlegene Gestal-<lb/>
tung selbst befriedigt sich, sogar in der Darstellung eines Ob-<lb/>
jekts, das, wenn wirklich, uns vernichten würde.</p><lb/>
          <p>So haben Tiefblickende uns die ästhetische Welt begreifen<lb/>
gelehrt. Und nun dürfen wir die Frage aufnehmen, was denn<lb/>
die ästhetische Bildung zur <hi rendition="#g">Erziehung des Willens</hi> bei-<lb/>
trägt.</p><lb/>
          <p>Voraus thut reinliche Scheidung not. So wie die Rein-<lb/>
heit des Sittlichen Schaden leidet, wenn man es dem Aesthe-<lb/>
tischen unterordnet, obgleich es gewissermaassen in ihm ein-<lb/>
geschlossen ist, so verwirrend ist wiederum jede Auffassung,<lb/>
welche das Aesthetische bloss als dienendes Mittel der Sitt-<lb/>
lichkeit zu würdigen weiss. Es ist zulässig und auch von<lb/>
uns zugelassen worden, Stoffe der Dichtung zu moralischer<lb/>
Belehrung zu verwenden. Aber es ist scharf zu betonen, dass<lb/>
dies nur von den Stoffen gilt. Zuvor muss die Dichtung rein<lb/>
für sich, als ästhetische Schöpfung, zur Geltung gekommen<lb/>
sein. Das kann sie aber nicht, wenn sie von Anfang an bloss<lb/>
als Unterlage moralisierender Betrachtung dargeboten wird.<lb/>
Das gilt schon von der Verwendung des Märchens, der Fabel,<lb/>
der biblischen Erzählung, und so erst recht vom Homer und<lb/>
allem, was ausdrücklich als Dichtung auftritt.</p><lb/>
          <p>Sogar ist gerade die reine sittliche Wirkung des Aesthe-<lb/>
tischen bedingt durch seine deutlichste Scheidung vom Sitt-<lb/>
lichen selbst. Denn es hilft zum Sittlichen so und <hi rendition="#g">nur</hi> so<lb/>
wie in ihrem harmonischen Verhältnis zu einander alle seeli-<lb/>
schen Kräfte sich helfen; zu ihrer Harmonie gehört aber, wie<lb/>
zur musikalischen, dass die Elemente, zwischen denen Har-<lb/>
monie stattfinden soll, sich nicht verwirren, sondern deutlich<lb/>
von einander abheben. Am engsten ist wohl die Berührung<lb/>
des Sittlichen mit dem Aesthetischen in der Tugend des Maasses,<lb/>
die den Griechen völlig mit dem &#x201E;Schönen&#x201C; der Seele zusam-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[317/0333] ja zuerst und zuletzt, individuell ist. Deswegen verlangt die Kunst, und sucht sogar, gerade wo sie zu ihrer höchsten Höhe sich erhebt, das bis hart an die Grenzen des Erträglichen Erschütternde, ja Vernichtende auf. Sie darf es, eben weil und wenn sie stets die göttliche Ueberlegenheit des Spiels selbst ihm gegenüber bewahrt: die überlegene Gestal- tung selbst befriedigt sich, sogar in der Darstellung eines Ob- jekts, das, wenn wirklich, uns vernichten würde. So haben Tiefblickende uns die ästhetische Welt begreifen gelehrt. Und nun dürfen wir die Frage aufnehmen, was denn die ästhetische Bildung zur Erziehung des Willens bei- trägt. Voraus thut reinliche Scheidung not. So wie die Rein- heit des Sittlichen Schaden leidet, wenn man es dem Aesthe- tischen unterordnet, obgleich es gewissermaassen in ihm ein- geschlossen ist, so verwirrend ist wiederum jede Auffassung, welche das Aesthetische bloss als dienendes Mittel der Sitt- lichkeit zu würdigen weiss. Es ist zulässig und auch von uns zugelassen worden, Stoffe der Dichtung zu moralischer Belehrung zu verwenden. Aber es ist scharf zu betonen, dass dies nur von den Stoffen gilt. Zuvor muss die Dichtung rein für sich, als ästhetische Schöpfung, zur Geltung gekommen sein. Das kann sie aber nicht, wenn sie von Anfang an bloss als Unterlage moralisierender Betrachtung dargeboten wird. Das gilt schon von der Verwendung des Märchens, der Fabel, der biblischen Erzählung, und so erst recht vom Homer und allem, was ausdrücklich als Dichtung auftritt. Sogar ist gerade die reine sittliche Wirkung des Aesthe- tischen bedingt durch seine deutlichste Scheidung vom Sitt- lichen selbst. Denn es hilft zum Sittlichen so und nur so wie in ihrem harmonischen Verhältnis zu einander alle seeli- schen Kräfte sich helfen; zu ihrer Harmonie gehört aber, wie zur musikalischen, dass die Elemente, zwischen denen Har- monie stattfinden soll, sich nicht verwirren, sondern deutlich von einander abheben. Am engsten ist wohl die Berührung des Sittlichen mit dem Aesthetischen in der Tugend des Maasses, die den Griechen völlig mit dem „Schönen“ der Seele zusam-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/333
Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/333>, abgerufen am 28.11.2024.