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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Auffassung. Wir werden nicht wirklich getäuscht, sollen auch
gar keine Mühe haben uns der wirklichen Täuschung zu er-
wehren. Wenn, so wäre unser Verhalten schon nicht mehr
rein ästhetisch, sondern in irgend einem Grade pathologisch;
während die rein ästhetische Haltung höchste Gesundheit
der Seele voraussetzt. Es ist richtig, dass z. B. in der Ro-
mantik diese an sich klaren Grenzen verwischt wurden, aber
dann hatte sie eben die Grenzen des Aesthetischen bereits
überschritten.

Was ist denn aber der Zweck dieses sonderbaren Spiels,
da es nicht Wahrheit sein soll, und doch auch nicht Betrug?
Spiel ist sein Zweck, nichts weiter. Das schlichteste Spiel
des Kindes enthält das Prinzip der ästhetischen Gestal-
tung, und den ganzen unerschöpflichen Quell der Seligkeit,
die sie einschliesst. "So ihr nicht werdet wie die Kinder",
so werdet ihr in diesen Himmel nicht eingehen. Und wenn
in der Kunst, etwa der Tragödie, dies Spiel sich zum erschüt-
terndsten Ernst erheben kann, indem es Natur und Sittlich-
keit, Welt und Ueberwelt, Erde und Himmel -- und Hölle
des Bewusstseins in Bewegung setzt und mit Titanenübermut
über sie alle verfügt, so ist es in all diesem erhabenen Ernst
immer noch Spiel; und in nichts Gefährlicherem besteht zuletzt
sein Uebermut, als darin, auch jenes alles, das Ernsteste, was
nur ein Menschenherz ergreifen mag, mitten in diesem Ernst,
für einen Augenblick dennoch zum Spiel zu gebrauchen, und
so darüber zu triumphieren. Und wozu das? Was giebt uns
das Recht eines so erhabenen Spiels selbst mit dem Heiligsten?
Dies Recht giebt uns das vollkommen wahre Bewusstsein:
dass Natur wie Sittlichkeit, Welt und Ueberwelt, Erde und
Himmel und Hölle unsrem Bewusstsein zu eigen gehören,
als seine Gebilde nicht nur je auf ihr Objekt (als wäre es
schlechthin für sich), sondern auf es selbst als den Urquell,
aus dem sie sich erzeugen, bezogen sind. Es ist das reine,
doch zugleich überindividuelle, weil eben auf die Gestaltung
von Objekten bezogene Selbstgefühl, was das Spiel der ästhe-
tischen Gestaltung uns verschafft; Selbstgefühl im Gestalten,
darum mehr als bloss individuell, wiewohl es immer auch,

Auffassung. Wir werden nicht wirklich getäuscht, sollen auch
gar keine Mühe haben uns der wirklichen Täuschung zu er-
wehren. Wenn, so wäre unser Verhalten schon nicht mehr
rein ästhetisch, sondern in irgend einem Grade pathologisch;
während die rein ästhetische Haltung höchste Gesundheit
der Seele voraussetzt. Es ist richtig, dass z. B. in der Ro-
mantik diese an sich klaren Grenzen verwischt wurden, aber
dann hatte sie eben die Grenzen des Aesthetischen bereits
überschritten.

Was ist denn aber der Zweck dieses sonderbaren Spiels,
da es nicht Wahrheit sein soll, und doch auch nicht Betrug?
Spiel ist sein Zweck, nichts weiter. Das schlichteste Spiel
des Kindes enthält das Prinzip der ästhetischen Gestal-
tung, und den ganzen unerschöpflichen Quell der Seligkeit,
die sie einschliesst. „So ihr nicht werdet wie die Kinder“,
so werdet ihr in diesen Himmel nicht eingehen. Und wenn
in der Kunst, etwa der Tragödie, dies Spiel sich zum erschüt-
terndsten Ernst erheben kann, indem es Natur und Sittlich-
keit, Welt und Ueberwelt, Erde und Himmel — und Hölle
des Bewusstseins in Bewegung setzt und mit Titanenübermut
über sie alle verfügt, so ist es in all diesem erhabenen Ernst
immer noch Spiel; und in nichts Gefährlicherem besteht zuletzt
sein Uebermut, als darin, auch jenes alles, das Ernsteste, was
nur ein Menschenherz ergreifen mag, mitten in diesem Ernst,
für einen Augenblick dennoch zum Spiel zu gebrauchen, und
so darüber zu triumphieren. Und wozu das? Was giebt uns
das Recht eines so erhabenen Spiels selbst mit dem Heiligsten?
Dies Recht giebt uns das vollkommen wahre Bewusstsein:
dass Natur wie Sittlichkeit, Welt und Ueberwelt, Erde und
Himmel und Hölle unsrem Bewusstsein zu eigen gehören,
als seine Gebilde nicht nur je auf ihr Objekt (als wäre es
schlechthin für sich), sondern auf es selbst als den Urquell,
aus dem sie sich erzeugen, bezogen sind. Es ist das reine,
doch zugleich überindividuelle, weil eben auf die Gestaltung
von Objekten bezogene Selbstgefühl, was das Spiel der ästhe-
tischen Gestaltung uns verschafft; Selbstgefühl im Gestalten,
darum mehr als bloss individuell, wiewohl es immer auch,

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[316/0332] Auffassung. Wir werden nicht wirklich getäuscht, sollen auch gar keine Mühe haben uns der wirklichen Täuschung zu er- wehren. Wenn, so wäre unser Verhalten schon nicht mehr rein ästhetisch, sondern in irgend einem Grade pathologisch; während die rein ästhetische Haltung höchste Gesundheit der Seele voraussetzt. Es ist richtig, dass z. B. in der Ro- mantik diese an sich klaren Grenzen verwischt wurden, aber dann hatte sie eben die Grenzen des Aesthetischen bereits überschritten. Was ist denn aber der Zweck dieses sonderbaren Spiels, da es nicht Wahrheit sein soll, und doch auch nicht Betrug? Spiel ist sein Zweck, nichts weiter. Das schlichteste Spiel des Kindes enthält das Prinzip der ästhetischen Gestal- tung, und den ganzen unerschöpflichen Quell der Seligkeit, die sie einschliesst. „So ihr nicht werdet wie die Kinder“, so werdet ihr in diesen Himmel nicht eingehen. Und wenn in der Kunst, etwa der Tragödie, dies Spiel sich zum erschüt- terndsten Ernst erheben kann, indem es Natur und Sittlich- keit, Welt und Ueberwelt, Erde und Himmel — und Hölle des Bewusstseins in Bewegung setzt und mit Titanenübermut über sie alle verfügt, so ist es in all diesem erhabenen Ernst immer noch Spiel; und in nichts Gefährlicherem besteht zuletzt sein Uebermut, als darin, auch jenes alles, das Ernsteste, was nur ein Menschenherz ergreifen mag, mitten in diesem Ernst, für einen Augenblick dennoch zum Spiel zu gebrauchen, und so darüber zu triumphieren. Und wozu das? Was giebt uns das Recht eines so erhabenen Spiels selbst mit dem Heiligsten? Dies Recht giebt uns das vollkommen wahre Bewusstsein: dass Natur wie Sittlichkeit, Welt und Ueberwelt, Erde und Himmel und Hölle unsrem Bewusstsein zu eigen gehören, als seine Gebilde nicht nur je auf ihr Objekt (als wäre es schlechthin für sich), sondern auf es selbst als den Urquell, aus dem sie sich erzeugen, bezogen sind. Es ist das reine, doch zugleich überindividuelle, weil eben auf die Gestaltung von Objekten bezogene Selbstgefühl, was das Spiel der ästhe- tischen Gestaltung uns verschafft; Selbstgefühl im Gestalten, darum mehr als bloss individuell, wiewohl es immer auch,

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/332>, abgerufen am 12.05.2024.