schichte zu erleben glaubt, besteht sie als konkret sittliche Gemeinschaft. Geschichtserfahrung also ist unmittelbar sitt- liche Erfahrung, und als solche gründlich verschieden von Er- fahrung im bloss theoretischen Sinne, der sie, ohne diesen hin- zukommenden Grund, d. h. bloss als Geschehen in der Zeit betrachtet, sich allerdings restlos ein- und unterordnen müsste. Der gemeinsame Begriff der Erfahrung ist nur, dass Vergangenes im Bewusstsein festgehalten, und aus der Verknüpfung, die es in ihm mit allem so Vergegenwärtigten bis zum direkt Gegen- wärtigen eingehen muss, der Begriff eines einheitlichen Objekts sich herausarbeitet, das als vom zeitlichen Wechsel unabhängig, in ihm identisch bestehend erkannt wird. Allein dies Objekt wird in der bloss theoretischen Erfahrung konstituiert durch die blosse Gesetzmässigkeit des thatsächlichen Geschehens, in der praktischen durch die Erkenntnis einer Einheit der Tendenz, die als nicht bloss der Erfahrung gemäss bestehend, sondern, unabhängig von diesem erfahrungsmässigen Bestand, bestehen sollend gedacht wird.
Der Zusammenhang des Geschichtlichen mit dem Sittlichen ist nach dieser Auffassung wahrlich eng und zwingend genug. Man hat also nicht darin geirrt, dass man von der Weckung des geschichtlichen Bewusstseins eine ethische Wirkung er- wartete, die auf keinem andern Wege zu erreichen und doch unumgänglich notwendig sei allermindestens für die, denen an der Leitung des Volks irgend ein Maass von Anteil künftig zufallen soll. Allein es hat hierbei zumeist an der hier alles entscheidenden Einsicht gefehlt, dass diese Wirkung in der Geschichte zunächst nur liegt, sofern sie erlebt, nicht, so- fern sie bloss erzählt wird. Gewiss wird das Erlebte natur- gemäss streben sich auch durch Erzählung zu befestigen, um so in unvergesslichem Gedächtnis fortzuwirken. Allein die Erzählung, auch wenn vertieft zur ernsteren Erforschung, ver- liert alsbald alle Kraft der sittlichen Wirkung, wenn sie nicht ihre überzeugende Bestätigung findet in den ferneren, unmittel- baren Erlebnissen der Gemeinschaft. Daraus ergiebt sich die sehr ernste Folge, dass die sittliche Wirkung, die man dem Geschichtsunterricht zutraut, eine gesunde sittliche Verfassung
schichte zu erleben glaubt, besteht sie als konkret sittliche Gemeinschaft. Geschichtserfahrung also ist unmittelbar sitt- liche Erfahrung, und als solche gründlich verschieden von Er- fahrung im bloss theoretischen Sinne, der sie, ohne diesen hin- zukommenden Grund, d. h. bloss als Geschehen in der Zeit betrachtet, sich allerdings restlos ein- und unterordnen müsste. Der gemeinsame Begriff der Erfahrung ist nur, dass Vergangenes im Bewusstsein festgehalten, und aus der Verknüpfung, die es in ihm mit allem so Vergegenwärtigten bis zum direkt Gegen- wärtigen eingehen muss, der Begriff eines einheitlichen Objekts sich herausarbeitet, das als vom zeitlichen Wechsel unabhängig, in ihm identisch bestehend erkannt wird. Allein dies Objekt wird in der bloss theoretischen Erfahrung konstituiert durch die blosse Gesetzmässigkeit des thatsächlichen Geschehens, in der praktischen durch die Erkenntnis einer Einheit der Tendenz, die als nicht bloss der Erfahrung gemäss bestehend, sondern, unabhängig von diesem erfahrungsmässigen Bestand, bestehen sollend gedacht wird.
Der Zusammenhang des Geschichtlichen mit dem Sittlichen ist nach dieser Auffassung wahrlich eng und zwingend genug. Man hat also nicht darin geirrt, dass man von der Weckung des geschichtlichen Bewusstseins eine ethische Wirkung er- wartete, die auf keinem andern Wege zu erreichen und doch unumgänglich notwendig sei allermindestens für die, denen an der Leitung des Volks irgend ein Maass von Anteil künftig zufallen soll. Allein es hat hierbei zumeist an der hier alles entscheidenden Einsicht gefehlt, dass diese Wirkung in der Geschichte zunächst nur liegt, sofern sie erlebt, nicht, so- fern sie bloss erzählt wird. Gewiss wird das Erlebte natur- gemäss streben sich auch durch Erzählung zu befestigen, um so in unvergesslichem Gedächtnis fortzuwirken. Allein die Erzählung, auch wenn vertieft zur ernsteren Erforschung, ver- liert alsbald alle Kraft der sittlichen Wirkung, wenn sie nicht ihre überzeugende Bestätigung findet in den ferneren, unmittel- baren Erlebnissen der Gemeinschaft. Daraus ergiebt sich die sehr ernste Folge, dass die sittliche Wirkung, die man dem Geschichtsunterricht zutraut, eine gesunde sittliche Verfassung
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schichte zu erleben glaubt, besteht sie als konkret sittliche
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fahrung im bloss theoretischen Sinne, der sie, ohne diesen hin-
zukommenden Grund, d. h. bloss als Geschehen in der Zeit
betrachtet, sich allerdings restlos ein- und unterordnen müsste.
Der gemeinsame Begriff der Erfahrung ist nur, dass Vergangenes
im Bewusstsein festgehalten, und aus der Verknüpfung, die es
in ihm mit allem so Vergegenwärtigten bis zum direkt Gegen-
wärtigen eingehen muss, der Begriff eines einheitlichen Objekts
sich herausarbeitet, das als vom zeitlichen Wechsel unabhängig,
in ihm identisch bestehend erkannt wird. Allein dies Objekt
wird in der bloss theoretischen Erfahrung konstituiert durch
die blosse Gesetzmässigkeit des thatsächlichen Geschehens,
in der praktischen durch die Erkenntnis einer Einheit der
Tendenz, die als nicht bloss der Erfahrung gemäss bestehend,
sondern, unabhängig von diesem erfahrungsmässigen Bestand,
bestehen sollend gedacht wird.
Der Zusammenhang des Geschichtlichen mit dem Sittlichen
ist nach dieser Auffassung wahrlich eng und zwingend genug.
Man hat also nicht darin geirrt, dass man von der Weckung
des geschichtlichen Bewusstseins eine ethische Wirkung er-
wartete, die auf keinem andern Wege zu erreichen und doch
unumgänglich notwendig sei allermindestens für die, denen an
der Leitung des Volks irgend ein Maass von Anteil künftig
zufallen soll. Allein es hat hierbei zumeist an der hier alles
entscheidenden Einsicht gefehlt, dass diese Wirkung in der
Geschichte zunächst nur liegt, sofern sie erlebt, nicht, so-
fern sie bloss erzählt wird. Gewiss wird das Erlebte natur-
gemäss streben sich auch durch Erzählung zu befestigen, um
so in unvergesslichem Gedächtnis fortzuwirken. Allein die
Erzählung, auch wenn vertieft zur ernsteren Erforschung, ver-
liert alsbald alle Kraft der sittlichen Wirkung, wenn sie nicht
ihre überzeugende Bestätigung findet in den ferneren, unmittel-
baren Erlebnissen der Gemeinschaft. Daraus ergiebt sich die
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/308>, abgerufen am 25.11.2024.
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