Sache des freien Spiels der Phantasie, nicht der Arbeit des Verstandes. Aber auch H. Schiller -- selbst Geschichtsforscher -- betont zwar die Wichtigkeit der Erkenntnis ursachlicher Zusammenhänge, aber nur desto mehr ist man verwundert zu finden, dass auch er eine andre Methode des Geschichtsunter- richts als erzählende Mitteilung nicht zu kennen scheint. Man empfindet also nicht, wie bedenklich in jeder erzieherischen, sowohl intellektuellen wie ethischen Rücksicht ein Unterricht ist, der dem Schüler durch einfache Mitteilung Begriffe und zwar von der grössten, erdenklich schwierigsten Sache, vom Werdegang und innern Zusammenhang der Entwicklung der Völker und schliesslich der Menschheit zu überliefern vorgiebt; Begriffe, von denen die tiefsten Forscher mit Schmerz be- kennen, dass sie sie nicht besitzen. Man fühlt also nicht die gefährliche (objektive) Unwahrheit, deren man sich durch solchen Unterricht schuldig macht. Ich meinerseits kann nicht ver- schweigen, dass ich sie als Schuljunge bereits empfunden habe, und dann immer mehr. Wer sie je empfunden hat, kann nur den niederschlagendsten Eindruck davon erhalten, wenn bei dieser Lage auch noch ein starkes und anscheinend erfolgreiches Bestreben besteht, sozusagen den ganzen Schulunterricht in Geschichtsunterricht, d. h. in ein einziges Vorerzählen und Nacherzählen zu verwandeln. Die preussischen Lehrpläne für die höheren Schulen vom Jahre 1891 können dafür als ein nur zu konkretes Belegstück gelten. Da wird besonders der ganze Sprachunterricht mit geschichtlichen Stoffen einschliesslich der Sage, die unter dem Gesichtspunkt der Epik ja ganz natürlich mit der Geschichte in eine Linie rückt, förmlich vollgepfropft, und auch für das, was von nicht unmittelbar geschichtlichen, besonders dichterischen und rhetorischen Stoffen zugelassen wird, eine ausschliesslich geschichtliche Behandlungsweise direkt vorgeschrieben; während die Grammatik und die Uebersetzung namentlich in fremde Sprache, die eine unverächtliche Uebung in eigener Denkarbeit jedenfalls einschliessen, bedenklich ver- kürzt und auch irgend ein Ersatz dafür in verstärktem mathe- matisch-naturwissenschaftlichem Unterricht bekanntlich nicht geleistet wird; gerade als ob bis dahin in den Schulen an
Sache des freien Spiels der Phantasie, nicht der Arbeit des Verstandes. Aber auch H. Schiller — selbst Geschichtsforscher — betont zwar die Wichtigkeit der Erkenntnis ursachlicher Zusammenhänge, aber nur desto mehr ist man verwundert zu finden, dass auch er eine andre Methode des Geschichtsunter- richts als erzählende Mitteilung nicht zu kennen scheint. Man empfindet also nicht, wie bedenklich in jeder erzieherischen, sowohl intellektuellen wie ethischen Rücksicht ein Unterricht ist, der dem Schüler durch einfache Mitteilung Begriffe und zwar von der grössten, erdenklich schwierigsten Sache, vom Werdegang und innern Zusammenhang der Entwicklung der Völker und schliesslich der Menschheit zu überliefern vorgiebt; Begriffe, von denen die tiefsten Forscher mit Schmerz be- kennen, dass sie sie nicht besitzen. Man fühlt also nicht die gefährliche (objektive) Unwahrheit, deren man sich durch solchen Unterricht schuldig macht. Ich meinerseits kann nicht ver- schweigen, dass ich sie als Schuljunge bereits empfunden habe, und dann immer mehr. Wer sie je empfunden hat, kann nur den niederschlagendsten Eindruck davon erhalten, wenn bei dieser Lage auch noch ein starkes und anscheinend erfolgreiches Bestreben besteht, sozusagen den ganzen Schulunterricht in Geschichtsunterricht, d. h. in ein einziges Vorerzählen und Nacherzählen zu verwandeln. Die preussischen Lehrpläne für die höheren Schulen vom Jahre 1891 können dafür als ein nur zu konkretes Belegstück gelten. Da wird besonders der ganze Sprachunterricht mit geschichtlichen Stoffen einschliesslich der Sage, die unter dem Gesichtspunkt der Epik ja ganz natürlich mit der Geschichte in eine Linie rückt, förmlich vollgepfropft, und auch für das, was von nicht unmittelbar geschichtlichen, besonders dichterischen und rhetorischen Stoffen zugelassen wird, eine ausschliesslich geschichtliche Behandlungsweise direkt vorgeschrieben; während die Grammatik und die Uebersetzung namentlich in fremde Sprache, die eine unverächtliche Uebung in eigener Denkarbeit jedenfalls einschliessen, bedenklich ver- kürzt und auch irgend ein Ersatz dafür in verstärktem mathe- matisch-naturwissenschaftlichem Unterricht bekanntlich nicht geleistet wird; gerade als ob bis dahin in den Schulen an
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Sache des freien Spiels der Phantasie, nicht der Arbeit des
Verstandes. Aber auch H. Schiller — selbst Geschichtsforscher
— betont zwar die Wichtigkeit der Erkenntnis ursachlicher
Zusammenhänge, aber nur desto mehr ist man verwundert zu
finden, dass auch er eine andre Methode des Geschichtsunter-
richts als erzählende Mitteilung nicht zu kennen scheint. Man
empfindet also nicht, wie bedenklich in jeder erzieherischen,
sowohl intellektuellen wie ethischen Rücksicht ein Unterricht
ist, der dem Schüler durch einfache Mitteilung Begriffe und
zwar von der grössten, erdenklich schwierigsten Sache, vom
Werdegang und innern Zusammenhang der Entwicklung der
Völker und schliesslich der Menschheit zu überliefern vorgiebt;
Begriffe, von denen die tiefsten Forscher mit Schmerz be-
kennen, dass sie sie nicht besitzen. Man fühlt also nicht die
gefährliche (objektive) Unwahrheit, deren man sich durch solchen
Unterricht schuldig macht. Ich meinerseits kann nicht ver-
schweigen, dass ich sie als Schuljunge bereits empfunden habe,
und dann immer mehr. Wer sie je empfunden hat, kann nur
den niederschlagendsten Eindruck davon erhalten, wenn bei dieser
Lage auch noch ein starkes und anscheinend erfolgreiches
Bestreben besteht, sozusagen den ganzen Schulunterricht in
Geschichtsunterricht, d. h. in ein einziges Vorerzählen und
Nacherzählen zu verwandeln. Die preussischen Lehrpläne für
die höheren Schulen vom Jahre 1891 können dafür als ein nur
zu konkretes Belegstück gelten. Da wird besonders der ganze
Sprachunterricht mit geschichtlichen Stoffen einschliesslich der
Sage, die unter dem Gesichtspunkt der Epik ja ganz natürlich
mit der Geschichte in eine Linie rückt, förmlich vollgepfropft,
und auch für das, was von nicht unmittelbar geschichtlichen,
besonders dichterischen und rhetorischen Stoffen zugelassen
wird, eine ausschliesslich geschichtliche Behandlungsweise direkt
vorgeschrieben; während die Grammatik und die Uebersetzung
namentlich in fremde Sprache, die eine unverächtliche Uebung
in eigener Denkarbeit jedenfalls einschliessen, bedenklich ver-
kürzt und auch irgend ein Ersatz dafür in verstärktem mathe-
matisch-naturwissenschaftlichem Unterricht bekanntlich nicht
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/304>, abgerufen am 23.11.2024.
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