Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Idee, in ihrer Reinheit niemals in der Erfahrung darstellbar,
wird erkannt als unendliche Aufgabe für Erfahrung. Ihre
reale Bedeutung ist: dass die vorhandene empirische Ge-
meinschaft nicht wegzuwerfen, sondern umzubilden
ist
, möglichst nahe zu der edleren Gestalt wahrer, freier, allein
innerlich gebundener d. i. autonomer Gemeinschaft
.
Die Erziehung, die man selbst in der vorhandenen Gemeinschaft
und durch sie empfing, ist der lebendige Beweis dafür, dass
diese empirische Gemeinschaft dennoch unter der Botmässigkeit
der Idee steht; die Idee hat doch darin eine Art Wirklichkeit
in ihr, dass es eine in der Gemeinschaft thatsächlich wirkende
Auffassung dieser Gemeinschaft selbst giebt, die aus dem Stand-
punkt der Idee vorgezeichnet ist und nicht an die Gemein-
schaft bloss als vorhandene und so, wie sie vorhanden ist, uns
binden will.

Und so bleibt es nicht bei einem träumenden Idealismus.
Die Aufgabe der Gemeinschaft wird, obwohl durch ihre Idee,
doch in der vollen Realität der Geschichte erfasslich. Das
Verständnis für Geschichte, als Einheit der Erlebnisse der
Menschheit, gehört recht eigentlich dieser Stufe an. Und
wenn man längst der Geschichte eine vorzüglich wichtige sitt-
lich bildende Kraft zugeschrieben hat, so müsste sie diese Kraft
vor allem in dem Sinne beweisen, dass sie die empirischen
Gemeinschaftsformen und alle überlieferte Kultur der Menschheit
als wandelbares Produkt der Entwicklung, als Objekt be-
ständiger, ernstester und zwar schliesslich für die ganze
Menschheit gemeinschaftlicher Arbeit
, d. i. als ewige
Aufgabe
, nie abschliessendes Ergebnis begreifen lehrt. Darauf
beruht zugleich das Verständnis und die echte, tiefgründige,
fürs Leben vorhaltende Begeisterung für jedweden Beruf und
jedwede Berufsbildung, auf welche die jetzt zu gewissem Ab-
schluss gelangende Allgemeinbildung als auf ihre notwendige
Ergänzung hinweist. Das gehört aber genau auf die Stufe der
jugendlichen Entwicklung, von der wir eben reden. Das Ver-
ständnis für Geschichte im angedeuteten Sinne kann erst auf
dieser Stufe erwartet werden. Bis dahin war alles in gewisser
Weise doch erst gespielt; das Beste, was dabei begriffen wurde,

Die Idee, in ihrer Reinheit niemals in der Erfahrung darstellbar,
wird erkannt als unendliche Aufgabe für Erfahrung. Ihre
reale Bedeutung ist: dass die vorhandene empirische Ge-
meinschaft nicht wegzuwerfen, sondern umzubilden
ist
, möglichst nahe zu der edleren Gestalt wahrer, freier, allein
innerlich gebundener d. i. autonomer Gemeinschaft
.
Die Erziehung, die man selbst in der vorhandenen Gemeinschaft
und durch sie empfing, ist der lebendige Beweis dafür, dass
diese empirische Gemeinschaft dennoch unter der Botmässigkeit
der Idee steht; die Idee hat doch darin eine Art Wirklichkeit
in ihr, dass es eine in der Gemeinschaft thatsächlich wirkende
Auffassung dieser Gemeinschaft selbst giebt, die aus dem Stand-
punkt der Idee vorgezeichnet ist und nicht an die Gemein-
schaft bloss als vorhandene und so, wie sie vorhanden ist, uns
binden will.

Und so bleibt es nicht bei einem träumenden Idealismus.
Die Aufgabe der Gemeinschaft wird, obwohl durch ihre Idee,
doch in der vollen Realität der Geschichte erfasslich. Das
Verständnis für Geschichte, als Einheit der Erlebnisse der
Menschheit, gehört recht eigentlich dieser Stufe an. Und
wenn man längst der Geschichte eine vorzüglich wichtige sitt-
lich bildende Kraft zugeschrieben hat, so müsste sie diese Kraft
vor allem in dem Sinne beweisen, dass sie die empirischen
Gemeinschaftsformen und alle überlieferte Kultur der Menschheit
als wandelbares Produkt der Entwicklung, als Objekt be-
ständiger, ernstester und zwar schliesslich für die ganze
Menschheit gemeinschaftlicher Arbeit
, d. i. als ewige
Aufgabe
, nie abschliessendes Ergebnis begreifen lehrt. Darauf
beruht zugleich das Verständnis und die echte, tiefgründige,
fürs Leben vorhaltende Begeisterung für jedweden Beruf und
jedwede Berufsbildung, auf welche die jetzt zu gewissem Ab-
schluss gelangende Allgemeinbildung als auf ihre notwendige
Ergänzung hinweist. Das gehört aber genau auf die Stufe der
jugendlichen Entwicklung, von der wir eben reden. Das Ver-
ständnis für Geschichte im angedeuteten Sinne kann erst auf
dieser Stufe erwartet werden. Bis dahin war alles in gewisser
Weise doch erst gespielt; das Beste, was dabei begriffen wurde,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0282" n="266"/>
Die Idee, in ihrer Reinheit niemals in der Erfahrung darstellbar,<lb/>
wird erkannt als unendliche Aufgabe <hi rendition="#g">für</hi> Erfahrung. Ihre<lb/>
reale Bedeutung ist: dass <hi rendition="#g">die vorhandene empirische Ge-<lb/>
meinschaft nicht wegzuwerfen, sondern umzubilden<lb/>
ist</hi>, möglichst nahe zu der edleren Gestalt wahrer, freier, <hi rendition="#g">allein<lb/>
innerlich gebundener d. i. autonomer Gemeinschaft</hi>.<lb/>
Die Erziehung, die man selbst in der vorhandenen Gemeinschaft<lb/>
und durch sie empfing, ist der lebendige Beweis dafür, dass<lb/>
diese empirische Gemeinschaft dennoch unter der Botmässigkeit<lb/>
der Idee steht; die Idee hat doch darin eine Art Wirklichkeit<lb/>
in ihr, dass es eine in der Gemeinschaft <hi rendition="#g">thatsächlich wirkende</hi><lb/>
Auffassung dieser Gemeinschaft selbst giebt, die aus dem Stand-<lb/>
punkt der Idee vorgezeichnet ist und nicht an die Gemein-<lb/>
schaft bloss als vorhandene und so, wie sie vorhanden ist, uns<lb/>
binden will.</p><lb/>
          <p>Und so bleibt es nicht bei einem träumenden Idealismus.<lb/>
Die Aufgabe der Gemeinschaft wird, obwohl <hi rendition="#g">durch</hi> ihre Idee,<lb/>
doch in der vollen <hi rendition="#g">Realität der Geschichte</hi> erfasslich. Das<lb/>
Verständnis für Geschichte, als <hi rendition="#g">Einheit</hi> der Erlebnisse der<lb/>
Menschheit, gehört recht eigentlich dieser Stufe an. Und<lb/>
wenn man längst der Geschichte eine vorzüglich wichtige sitt-<lb/>
lich bildende Kraft zugeschrieben hat, so müsste sie diese Kraft<lb/>
vor allem in dem Sinne beweisen, dass sie die empirischen<lb/>
Gemeinschaftsformen und alle überlieferte Kultur der Menschheit<lb/>
als wandelbares Produkt der Entwicklung, als Objekt be-<lb/>
ständiger, ernstester und zwar schliesslich <hi rendition="#g">für die ganze<lb/>
Menschheit gemeinschaftlicher Arbeit</hi>, d. i. als <hi rendition="#g">ewige<lb/>
Aufgabe</hi>, nie abschliessendes Ergebnis begreifen lehrt. Darauf<lb/>
beruht zugleich das Verständnis und die echte, tiefgründige,<lb/>
fürs Leben vorhaltende Begeisterung für jedweden <hi rendition="#g">Beruf</hi> und<lb/>
jedwede Berufsbildung, auf welche die jetzt zu gewissem Ab-<lb/>
schluss gelangende Allgemeinbildung als auf ihre notwendige<lb/>
Ergänzung hinweist. Das gehört aber genau auf die Stufe der<lb/>
jugendlichen Entwicklung, von der wir eben reden. Das Ver-<lb/>
ständnis für Geschichte im angedeuteten Sinne kann erst auf<lb/>
dieser Stufe erwartet werden. Bis dahin war alles in gewisser<lb/>
Weise doch erst gespielt; das Beste, was dabei begriffen wurde,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[266/0282] Die Idee, in ihrer Reinheit niemals in der Erfahrung darstellbar, wird erkannt als unendliche Aufgabe für Erfahrung. Ihre reale Bedeutung ist: dass die vorhandene empirische Ge- meinschaft nicht wegzuwerfen, sondern umzubilden ist, möglichst nahe zu der edleren Gestalt wahrer, freier, allein innerlich gebundener d. i. autonomer Gemeinschaft. Die Erziehung, die man selbst in der vorhandenen Gemeinschaft und durch sie empfing, ist der lebendige Beweis dafür, dass diese empirische Gemeinschaft dennoch unter der Botmässigkeit der Idee steht; die Idee hat doch darin eine Art Wirklichkeit in ihr, dass es eine in der Gemeinschaft thatsächlich wirkende Auffassung dieser Gemeinschaft selbst giebt, die aus dem Stand- punkt der Idee vorgezeichnet ist und nicht an die Gemein- schaft bloss als vorhandene und so, wie sie vorhanden ist, uns binden will. Und so bleibt es nicht bei einem träumenden Idealismus. Die Aufgabe der Gemeinschaft wird, obwohl durch ihre Idee, doch in der vollen Realität der Geschichte erfasslich. Das Verständnis für Geschichte, als Einheit der Erlebnisse der Menschheit, gehört recht eigentlich dieser Stufe an. Und wenn man längst der Geschichte eine vorzüglich wichtige sitt- lich bildende Kraft zugeschrieben hat, so müsste sie diese Kraft vor allem in dem Sinne beweisen, dass sie die empirischen Gemeinschaftsformen und alle überlieferte Kultur der Menschheit als wandelbares Produkt der Entwicklung, als Objekt be- ständiger, ernstester und zwar schliesslich für die ganze Menschheit gemeinschaftlicher Arbeit, d. i. als ewige Aufgabe, nie abschliessendes Ergebnis begreifen lehrt. Darauf beruht zugleich das Verständnis und die echte, tiefgründige, fürs Leben vorhaltende Begeisterung für jedweden Beruf und jedwede Berufsbildung, auf welche die jetzt zu gewissem Ab- schluss gelangende Allgemeinbildung als auf ihre notwendige Ergänzung hinweist. Das gehört aber genau auf die Stufe der jugendlichen Entwicklung, von der wir eben reden. Das Ver- ständnis für Geschichte im angedeuteten Sinne kann erst auf dieser Stufe erwartet werden. Bis dahin war alles in gewisser Weise doch erst gespielt; das Beste, was dabei begriffen wurde,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/282
Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/282>, abgerufen am 25.11.2024.