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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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streitet allem, was wir über die Gesetzmässigkeit der sozialen
Entwicklung zu wissen behaupten dürfen. Allein die erstere
Ansicht scheint vollends trostlos. Unsere Grundsätze führen
zu keinem von beiden Extremen. Zwar erkannten wir fort-
schreitende Konzentration als Grundzug der wirtschaftlichen
Entwicklung an; aber nur in Verbindung mit gleichzeitig zu-
nehmender Individualisierung. Daraus folgt, dass das
Haus, als "Zelle" des wirtschaftlichen Organismus, zwar unter
dem zeitweiligen Vorwalten der generalisierenden über die
individualisierende Tendenz verkümmern, aber dauernd nicht
untergehen kann, es sei denn mit dem Untergang des ganzen
Organismus. Es ist nicht Fortschritt sondern Rückschritt
der Wirtschaft, wenn die Arbeit ihres Individualcharakters
ganz verlustig geht, d. h. wenn der Arbeiter durch die Art
des Arbeitsbetriebs zur Maschine, ja zum Maschinenteil herab-
gedrückt wird. Vollends unvereinbar ist solche Mechanisierung
der Arbeit mit dem, durch die Gesetze der sozialen Entwick-
lung doch gleichfalls geforderten, Anteil des wirtschaftlichen
Arbeiters an der regierenden wie an der bildenden Thätigkeit.
Die Wiederherstellung individualisierter Arbeit, vollends die
geistige und rechtliche Emanzipation des Maschinensklaven,
fordert eine mehr und mehr individualisierte Erziehung auch
und zu allererst zur Arbeit selbst, und darum ein individuali-
siertes, nicht kasernenmässig roh und mechanisch zentralisiertes
Leben des Arbeiters; welches doch wohl nur ein Hausleben,
ein Familienleben, wenn auch vielleicht anderen Stiles als
bisher wird sein können. Es ist einer der Punkte, wo der
landläufige Sozialismus in auffälligster und schädlichster Weise
sich selber missverstanden und, statt von seinen grossen und
sicheren Prinzipien, von der so leicht irreführenden Lehre
augenblicklicher Erfahrung sich hat bestimmen lassen.

Wir verkennen darum nicht die ernsten Schwierigkeiten
der heutigen Lage. Schon Pestalozzi, der auch in dieser Frage
von grossen und richtigen Ahnungen geleitet wurde, sah sie
herannahen; vollends Fichte liess sich dadurch, wie schon vor
ihm einige Theoretiker der Revolution, zu der schroffen Forde-
rung ausschliesslich gemeinschaftlicher Erziehung in staatlich

streitet allem, was wir über die Gesetzmässigkeit der sozialen
Entwicklung zu wissen behaupten dürfen. Allein die erstere
Ansicht scheint vollends trostlos. Unsere Grundsätze führen
zu keinem von beiden Extremen. Zwar erkannten wir fort-
schreitende Konzentration als Grundzug der wirtschaftlichen
Entwicklung an; aber nur in Verbindung mit gleichzeitig zu-
nehmender Individualisierung. Daraus folgt, dass das
Haus, als „Zelle“ des wirtschaftlichen Organismus, zwar unter
dem zeitweiligen Vorwalten der generalisierenden über die
individualisierende Tendenz verkümmern, aber dauernd nicht
untergehen kann, es sei denn mit dem Untergang des ganzen
Organismus. Es ist nicht Fortschritt sondern Rückschritt
der Wirtschaft, wenn die Arbeit ihres Individualcharakters
ganz verlustig geht, d. h. wenn der Arbeiter durch die Art
des Arbeitsbetriebs zur Maschine, ja zum Maschinenteil herab-
gedrückt wird. Vollends unvereinbar ist solche Mechanisierung
der Arbeit mit dem, durch die Gesetze der sozialen Entwick-
lung doch gleichfalls geforderten, Anteil des wirtschaftlichen
Arbeiters an der regierenden wie an der bildenden Thätigkeit.
Die Wiederherstellung individualisierter Arbeit, vollends die
geistige und rechtliche Emanzipation des Maschinensklaven,
fordert eine mehr und mehr individualisierte Erziehung auch
und zu allererst zur Arbeit selbst, und darum ein individuali-
siertes, nicht kasernenmässig roh und mechanisch zentralisiertes
Leben des Arbeiters; welches doch wohl nur ein Hausleben,
ein Familienleben, wenn auch vielleicht anderen Stiles als
bisher wird sein können. Es ist einer der Punkte, wo der
landläufige Sozialismus in auffälligster und schädlichster Weise
sich selber missverstanden und, statt von seinen grossen und
sicheren Prinzipien, von der so leicht irreführenden Lehre
augenblicklicher Erfahrung sich hat bestimmen lassen.

Wir verkennen darum nicht die ernsten Schwierigkeiten
der heutigen Lage. Schon Pestalozzi, der auch in dieser Frage
von grossen und richtigen Ahnungen geleitet wurde, sah sie
herannahen; vollends Fichte liess sich dadurch, wie schon vor
ihm einige Theoretiker der Revolution, zu der schroffen Forde-
rung ausschliesslich gemeinschaftlicher Erziehung in staatlich

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[197/0213] streitet allem, was wir über die Gesetzmässigkeit der sozialen Entwicklung zu wissen behaupten dürfen. Allein die erstere Ansicht scheint vollends trostlos. Unsere Grundsätze führen zu keinem von beiden Extremen. Zwar erkannten wir fort- schreitende Konzentration als Grundzug der wirtschaftlichen Entwicklung an; aber nur in Verbindung mit gleichzeitig zu- nehmender Individualisierung. Daraus folgt, dass das Haus, als „Zelle“ des wirtschaftlichen Organismus, zwar unter dem zeitweiligen Vorwalten der generalisierenden über die individualisierende Tendenz verkümmern, aber dauernd nicht untergehen kann, es sei denn mit dem Untergang des ganzen Organismus. Es ist nicht Fortschritt sondern Rückschritt der Wirtschaft, wenn die Arbeit ihres Individualcharakters ganz verlustig geht, d. h. wenn der Arbeiter durch die Art des Arbeitsbetriebs zur Maschine, ja zum Maschinenteil herab- gedrückt wird. Vollends unvereinbar ist solche Mechanisierung der Arbeit mit dem, durch die Gesetze der sozialen Entwick- lung doch gleichfalls geforderten, Anteil des wirtschaftlichen Arbeiters an der regierenden wie an der bildenden Thätigkeit. Die Wiederherstellung individualisierter Arbeit, vollends die geistige und rechtliche Emanzipation des Maschinensklaven, fordert eine mehr und mehr individualisierte Erziehung auch und zu allererst zur Arbeit selbst, und darum ein individuali- siertes, nicht kasernenmässig roh und mechanisch zentralisiertes Leben des Arbeiters; welches doch wohl nur ein Hausleben, ein Familienleben, wenn auch vielleicht anderen Stiles als bisher wird sein können. Es ist einer der Punkte, wo der landläufige Sozialismus in auffälligster und schädlichster Weise sich selber missverstanden und, statt von seinen grossen und sicheren Prinzipien, von der so leicht irreführenden Lehre augenblicklicher Erfahrung sich hat bestimmen lassen. Wir verkennen darum nicht die ernsten Schwierigkeiten der heutigen Lage. Schon Pestalozzi, der auch in dieser Frage von grossen und richtigen Ahnungen geleitet wurde, sah sie herannahen; vollends Fichte liess sich dadurch, wie schon vor ihm einige Theoretiker der Revolution, zu der schroffen Forde- rung ausschliesslich gemeinschaftlicher Erziehung in staatlich

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/213>, abgerufen am 05.05.2024.