Da fehlt es offenbar an festgegründeten Organisationen des Gemeinschaftslebens der Erwachsenen; die alten sind in Auf- lösung begriffen, neue haben noch nicht feste Gestalt ge- wonnen. Aber zum wenigsten liegen die beiden andern Faktoren, Haus und Schule, deutlich vor. An ihnen muss daher zunächst unser Prinzip sich erproben.
Da stossen wir, was zuerst das Haus betrifft, auf ernste Fragen. Das Haus oder die "Familie", wenn wir so die Ge- meinschaft selbst benennen, welche das Haus zu ihrer materiellen Unterlage, gleichsam ihrem körperlichen Organ hat, unterliegt starken Wandlungen; sie ist eben jetzt in einer Umbildung begriffen, die es erschwert, ihren Begriff fest und sicher zu erfassen. Es fehlt nicht an solchen, die behaupten, dass die Familie zu den organisatorischen Schöpfungen einer fernen Vergangenheit gehöre, die heute in heller Auflösung gerade bei den Völkern und Volksschichten begriffen seien, denen mehr und mehr eine führende Rolle in der Kulturentwicklung zugefallen sei oder in absehbarer Zeit zufallen müsse. Man betrachtet den Verfall der Familie, ohne ihn eigentlich gut zu heissen, als unabwendliches Verhängnis, als unausbleibliche Folge der wirtschaftlichen Umwälzung vom Kleinbetrieb zum Grossbetrieb, von der Handarbeit zur Maschinenarbeit, vom Nahverkehr zum Fernverkehr, und sieht ihm gleichsam mit verschränkten Armen zu. Oder aber man träumt von der Wiederherstellung eines grossenteils schon entschwundenen und weiter im Rückgang begriffenen, weil eben mit vorwaltendem landwirtschaftlichen und industriellen Kleinbetrieb zusammen- hängenden Zustands, oder doch möglichster Behütung dessen, was davon noch übrig ist, vor weiterem Verfall. Es ist letzten Grundes ein Zustand gleich dem des Mittelalters, den man zurückführen möchte; ein Zustand, für den neben und im Zu- sammenhang mit dem vorherrschenden Kleinbetrieb die Son- derung der wirtschaftlichen Klasse von der regierenden sowie einer dritten, der die Pflege der geistigen Interessen ausschliess- lich anvertraut ist, einem (etwa auch weltlich zu denkenden) Klerus charakteristisch ist.
Die Annahme einer solchen Rückwärtsbewegung wider-
Da fehlt es offenbar an festgegründeten Organisationen des Gemeinschaftslebens der Erwachsenen; die alten sind in Auf- lösung begriffen, neue haben noch nicht feste Gestalt ge- wonnen. Aber zum wenigsten liegen die beiden andern Faktoren, Haus und Schule, deutlich vor. An ihnen muss daher zunächst unser Prinzip sich erproben.
Da stossen wir, was zuerst das Haus betrifft, auf ernste Fragen. Das Haus oder die „Familie“, wenn wir so die Ge- meinschaft selbst benennen, welche das Haus zu ihrer materiellen Unterlage, gleichsam ihrem körperlichen Organ hat, unterliegt starken Wandlungen; sie ist eben jetzt in einer Umbildung begriffen, die es erschwert, ihren Begriff fest und sicher zu erfassen. Es fehlt nicht an solchen, die behaupten, dass die Familie zu den organisatorischen Schöpfungen einer fernen Vergangenheit gehöre, die heute in heller Auflösung gerade bei den Völkern und Volksschichten begriffen seien, denen mehr und mehr eine führende Rolle in der Kulturentwicklung zugefallen sei oder in absehbarer Zeit zufallen müsse. Man betrachtet den Verfall der Familie, ohne ihn eigentlich gut zu heissen, als unabwendliches Verhängnis, als unausbleibliche Folge der wirtschaftlichen Umwälzung vom Kleinbetrieb zum Grossbetrieb, von der Handarbeit zur Maschinenarbeit, vom Nahverkehr zum Fernverkehr, und sieht ihm gleichsam mit verschränkten Armen zu. Oder aber man träumt von der Wiederherstellung eines grossenteils schon entschwundenen und weiter im Rückgang begriffenen, weil eben mit vorwaltendem landwirtschaftlichen und industriellen Kleinbetrieb zusammen- hängenden Zustands, oder doch möglichster Behütung dessen, was davon noch übrig ist, vor weiterem Verfall. Es ist letzten Grundes ein Zustand gleich dem des Mittelalters, den man zurückführen möchte; ein Zustand, für den neben und im Zu- sammenhang mit dem vorherrschenden Kleinbetrieb die Son- derung der wirtschaftlichen Klasse von der regierenden sowie einer dritten, der die Pflege der geistigen Interessen ausschliess- lich anvertraut ist, einem (etwa auch weltlich zu denkenden) Klerus charakteristisch ist.
Die Annahme einer solchen Rückwärtsbewegung wider-
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[196/0212]
Da fehlt es offenbar an festgegründeten Organisationen des
Gemeinschaftslebens der Erwachsenen; die alten sind in Auf-
lösung begriffen, neue haben noch nicht feste Gestalt ge-
wonnen. Aber zum wenigsten liegen die beiden andern Faktoren,
Haus und Schule, deutlich vor. An ihnen muss daher zunächst
unser Prinzip sich erproben.
Da stossen wir, was zuerst das Haus betrifft, auf ernste
Fragen. Das Haus oder die „Familie“, wenn wir so die Ge-
meinschaft selbst benennen, welche das Haus zu ihrer materiellen
Unterlage, gleichsam ihrem körperlichen Organ hat, unterliegt
starken Wandlungen; sie ist eben jetzt in einer Umbildung
begriffen, die es erschwert, ihren Begriff fest und sicher zu
erfassen. Es fehlt nicht an solchen, die behaupten, dass die
Familie zu den organisatorischen Schöpfungen einer fernen
Vergangenheit gehöre, die heute in heller Auflösung gerade
bei den Völkern und Volksschichten begriffen seien, denen
mehr und mehr eine führende Rolle in der Kulturentwicklung
zugefallen sei oder in absehbarer Zeit zufallen müsse. Man
betrachtet den Verfall der Familie, ohne ihn eigentlich gut
zu heissen, als unabwendliches Verhängnis, als unausbleibliche
Folge der wirtschaftlichen Umwälzung vom Kleinbetrieb zum
Grossbetrieb, von der Handarbeit zur Maschinenarbeit, vom
Nahverkehr zum Fernverkehr, und sieht ihm gleichsam mit
verschränkten Armen zu. Oder aber man träumt von der
Wiederherstellung eines grossenteils schon entschwundenen und
weiter im Rückgang begriffenen, weil eben mit vorwaltendem
landwirtschaftlichen und industriellen Kleinbetrieb zusammen-
hängenden Zustands, oder doch möglichster Behütung dessen,
was davon noch übrig ist, vor weiterem Verfall. Es ist letzten
Grundes ein Zustand gleich dem des Mittelalters, den man
zurückführen möchte; ein Zustand, für den neben und im Zu-
sammenhang mit dem vorherrschenden Kleinbetrieb die Son-
derung der wirtschaftlichen Klasse von der regierenden sowie
einer dritten, der die Pflege der geistigen Interessen ausschliess-
lich anvertraut ist, einem (etwa auch weltlich zu denkenden)
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/212>, abgerufen am 25.11.2024.
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