mässige Entwicklung aller gesunden, d. h. unter sich harmo- nierenden Triebe für alle ermöglicht und mehr und mehr zur Wahrheit macht. Es ist dabei, wie allgemein bei den Be- griffen "Trieb" und "Arbeit", nicht allein an Befriedigung des physischen Lebens- und Genusstriebs zu denken. Um die "wirtschaftliche" Funktion handelt es sich allerdings; aber diese erstreckt sich, wie wir sahen, auf alle menschliche Thätig- keit, sofern sie auf der materialen Bedingung verfügbarer Trieb- kräfte beruht. Die wesentliche Bedingung einer verhältnis- mässigen Entfaltung aller harmonierenden Triebe in allen ist aber, dass die Thätigkeiten aller in jeder Richtung sich fördernd (oder wenigstens nicht hemmend) ineinandergreifen, also die durchgängige Organisation der Arbeit auf dem Boden der Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit. Wie das Prinzip des technischen Fortschritts, gleichsehr im Sinne der Naturtechnik wie der sozialen Technik, genau hier- auf führt, ist bereits oben dargelegt worden; auch, dass gerade jene durchgängige Organisation eine natürliche Gliederung in kontinuierlichen Uebergängen, und damit jede gegründete Rücksichtnahme auf Fähigkeit und Neigung der Einzelnen mög- lich machen, also die Entwicklung der Individualität nicht nur nicht unterdrücken, sondern erst recht ermöglichen würde. Nur jene Diskontinuität in der Gliederung muss und wird verschwinden, deren Extrem (in der hier fraglichen Rücksicht) schon Plato dahin ausgedrückt hat, dass die Ar- beitenden der Mittel zur Arbeit beraubt, die Inhaber der Ar- beitsmittel dagegen in Person von der Pflicht der Arbeit ent- bunden sind. Eine gesonderte Klasse wirtschaftlich Arbeitender gestattet das sittliche Grundgesetz des so- zialen Lebens so wenig, wie es eine Klasse Regierender oder eine Klasse im Alleinbesitz der Bildung erlaubt. Es ist aber vielleicht keine Bedingung von so grundlegender Be- deutung für wahres Gemeinschaftsleben, als die der Ar- beitsgemeinschaft. Auch scheint man sich langsam der Ein- sicht zu nähern, dass eine Volksgemeinschaft auf anderem als diesem Grunde in Wahrheit nicht möglich; dass, wenn sich gegenwärtig noch, wie in Platos Zeit, "zwei Völker" inner-
mässige Entwicklung aller gesunden, d. h. unter sich harmo- nierenden Triebe für alle ermöglicht und mehr und mehr zur Wahrheit macht. Es ist dabei, wie allgemein bei den Be- griffen „Trieb“ und „Arbeit“, nicht allein an Befriedigung des physischen Lebens- und Genusstriebs zu denken. Um die „wirtschaftliche“ Funktion handelt es sich allerdings; aber diese erstreckt sich, wie wir sahen, auf alle menschliche Thätig- keit, sofern sie auf der materialen Bedingung verfügbarer Trieb- kräfte beruht. Die wesentliche Bedingung einer verhältnis- mässigen Entfaltung aller harmonierenden Triebe in allen ist aber, dass die Thätigkeiten aller in jeder Richtung sich fördernd (oder wenigstens nicht hemmend) ineinandergreifen, also die durchgängige Organisation der Arbeit auf dem Boden der Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit. Wie das Prinzip des technischen Fortschritts, gleichsehr im Sinne der Naturtechnik wie der sozialen Technik, genau hier- auf führt, ist bereits oben dargelegt worden; auch, dass gerade jene durchgängige Organisation eine natürliche Gliederung in kontinuierlichen Uebergängen, und damit jede gegründete Rücksichtnahme auf Fähigkeit und Neigung der Einzelnen mög- lich machen, also die Entwicklung der Individualität nicht nur nicht unterdrücken, sondern erst recht ermöglichen würde. Nur jene Diskontinuität in der Gliederung muss und wird verschwinden, deren Extrem (in der hier fraglichen Rücksicht) schon Plato dahin ausgedrückt hat, dass die Ar- beitenden der Mittel zur Arbeit beraubt, die Inhaber der Ar- beitsmittel dagegen in Person von der Pflicht der Arbeit ent- bunden sind. Eine gesonderte Klasse wirtschaftlich Arbeitender gestattet das sittliche Grundgesetz des so- zialen Lebens so wenig, wie es eine Klasse Regierender oder eine Klasse im Alleinbesitz der Bildung erlaubt. Es ist aber vielleicht keine Bedingung von so grundlegender Be- deutung für wahres Gemeinschaftsleben, als die der Ar- beitsgemeinschaft. Auch scheint man sich langsam der Ein- sicht zu nähern, dass eine Volksgemeinschaft auf anderem als diesem Grunde in Wahrheit nicht möglich; dass, wenn sich gegenwärtig noch, wie in Platos Zeit, „zwei Völker“ inner-
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[186/0202]
mässige Entwicklung aller gesunden, d. h. unter sich harmo-
nierenden Triebe für alle ermöglicht und mehr und mehr zur
Wahrheit macht. Es ist dabei, wie allgemein bei den Be-
griffen „Trieb“ und „Arbeit“, nicht allein an Befriedigung des
physischen Lebens- und Genusstriebs zu denken. Um die
„wirtschaftliche“ Funktion handelt es sich allerdings; aber
diese erstreckt sich, wie wir sahen, auf alle menschliche Thätig-
keit, sofern sie auf der materialen Bedingung verfügbarer Trieb-
kräfte beruht. Die wesentliche Bedingung einer verhältnis-
mässigen Entfaltung aller harmonierenden Triebe in allen ist
aber, dass die Thätigkeiten aller in jeder Richtung sich fördernd
(oder wenigstens nicht hemmend) ineinandergreifen,
also die durchgängige Organisation der Arbeit auf
dem Boden der Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit.
Wie das Prinzip des technischen Fortschritts, gleichsehr im
Sinne der Naturtechnik wie der sozialen Technik, genau hier-
auf führt, ist bereits oben dargelegt worden; auch, dass gerade
jene durchgängige Organisation eine natürliche Gliederung
in kontinuierlichen Uebergängen, und damit jede gegründete
Rücksichtnahme auf Fähigkeit und Neigung der Einzelnen mög-
lich machen, also die Entwicklung der Individualität
nicht nur nicht unterdrücken, sondern erst recht ermöglichen
würde. Nur jene Diskontinuität in der Gliederung muss
und wird verschwinden, deren Extrem (in der hier fraglichen
Rücksicht) schon Plato dahin ausgedrückt hat, dass die Ar-
beitenden der Mittel zur Arbeit beraubt, die Inhaber der Ar-
beitsmittel dagegen in Person von der Pflicht der Arbeit ent-
bunden sind. Eine gesonderte Klasse wirtschaftlich
Arbeitender gestattet das sittliche Grundgesetz des so-
zialen Lebens so wenig, wie es eine Klasse Regierender
oder eine Klasse im Alleinbesitz der Bildung erlaubt. Es ist
aber vielleicht keine Bedingung von so grundlegender Be-
deutung für wahres Gemeinschaftsleben, als die der Ar-
beitsgemeinschaft. Auch scheint man sich langsam der Ein-
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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/202>, abgerufen am 23.11.2024.
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