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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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setzgebung und der Rechtsprechung hat sich noch stets
in ihrem Gefolge auf so entscheidende Weise durchgesetzt,
dass daran hinfort wohl nicht mehr zu rütteln sein wird. In
sich schon widerspricht es, von irgend einem Gliede der Ge-
meinschaft zu verlangen, dass es im gegebenen Fall für sie
sterbe, ohne dass man ihm gestattet, für sie auch zu leben.
Es ist nur viel leichter das Erstere zu erzwingen als zum
Letztern dem Menschen auch nur die Fähigkeit mitzuteilen.
Das Wirken für die Gemeinschaft will allerdings auch gelernt
sein, und es ist Sache einer ungleich tiefer gehenden Erziehung,
als etwa der Kasernenhof sie in bestimmter technischer Rück-
sicht bieten kann und wirklich bietet. Es ist richtig, dass
Bildung, sogar recht viel Bildung dazu gehört, in einem so
komplizierten öffentlichen Leben, wie das heutige aller ent-
wickelten Nationen ist, das Stimmrecht mit Verstand auszu-
üben. Aber daraus kann allein gefolgert werden, dass man
alles daran setzen sollte, eine gründliche Bildung selbst bis
zur Stufe der Wissenschaft möglichst allgemein zu machen.
Die Gebildeten und Erzogenen sollten auch die Regierenden
sein; ich folgere: also muss allen eine solche Bildung und Er-
ziehung gegeben werden, wie sie sie brauchen, um an der Re-
gierung den Anteil nehmen zu dürfen, den das Gesetz des
sozialen Lebens für alle fordert. Alles Andre sind blosse Be-
schwichtigungsmittel, die als solche unverwerflich sein mögen,
aber das Uebel nicht heilen, auch nicht verhindern können,
dass es unter der Oberfläche fortwuchert, um im gegebenen
Augenblick mit verdoppelter Stärke, vielleicht verhängnisvoll,
wieder hervorzubrechen. Somit führt unsere zweite Tugend
auf dieselbe Forderung wie die erste: gründliche Bildung
für alle
. Es muss ja auch wohl so sein, dass die Grund-
tugenden des sozialen Lebens sich alle gegenseitig fordern,
keine ohne die andere bestehen kann; so wie es an den indi-
vidualen Tugenden früher dargethan worden ist.

Die dritte Forderung ist die einer durchgängigen harmo-
nischen Ordnung des Trieblebens der Gemeinschaft,
worunter zu verstehen ist: eine solche Verteilung von Arbeit
und Genuss des Arbeitsertrags, die eine verhältnis-

setzgebung und der Rechtsprechung hat sich noch stets
in ihrem Gefolge auf so entscheidende Weise durchgesetzt,
dass daran hinfort wohl nicht mehr zu rütteln sein wird. In
sich schon widerspricht es, von irgend einem Gliede der Ge-
meinschaft zu verlangen, dass es im gegebenen Fall für sie
sterbe, ohne dass man ihm gestattet, für sie auch zu leben.
Es ist nur viel leichter das Erstere zu erzwingen als zum
Letztern dem Menschen auch nur die Fähigkeit mitzuteilen.
Das Wirken für die Gemeinschaft will allerdings auch gelernt
sein, und es ist Sache einer ungleich tiefer gehenden Erziehung,
als etwa der Kasernenhof sie in bestimmter technischer Rück-
sicht bieten kann und wirklich bietet. Es ist richtig, dass
Bildung, sogar recht viel Bildung dazu gehört, in einem so
komplizierten öffentlichen Leben, wie das heutige aller ent-
wickelten Nationen ist, das Stimmrecht mit Verstand auszu-
üben. Aber daraus kann allein gefolgert werden, dass man
alles daran setzen sollte, eine gründliche Bildung selbst bis
zur Stufe der Wissenschaft möglichst allgemein zu machen.
Die Gebildeten und Erzogenen sollten auch die Regierenden
sein; ich folgere: also muss allen eine solche Bildung und Er-
ziehung gegeben werden, wie sie sie brauchen, um an der Re-
gierung den Anteil nehmen zu dürfen, den das Gesetz des
sozialen Lebens für alle fordert. Alles Andre sind blosse Be-
schwichtigungsmittel, die als solche unverwerflich sein mögen,
aber das Uebel nicht heilen, auch nicht verhindern können,
dass es unter der Oberfläche fortwuchert, um im gegebenen
Augenblick mit verdoppelter Stärke, vielleicht verhängnisvoll,
wieder hervorzubrechen. Somit führt unsere zweite Tugend
auf dieselbe Forderung wie die erste: gründliche Bildung
für alle
. Es muss ja auch wohl so sein, dass die Grund-
tugenden des sozialen Lebens sich alle gegenseitig fordern,
keine ohne die andere bestehen kann; so wie es an den indi-
vidualen Tugenden früher dargethan worden ist.

Die dritte Forderung ist die einer durchgängigen harmo-
nischen Ordnung des Trieblebens der Gemeinschaft,
worunter zu verstehen ist: eine solche Verteilung von Arbeit
und Genuss des Arbeitsertrags, die eine verhältnis-

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[185/0201] setzgebung und der Rechtsprechung hat sich noch stets in ihrem Gefolge auf so entscheidende Weise durchgesetzt, dass daran hinfort wohl nicht mehr zu rütteln sein wird. In sich schon widerspricht es, von irgend einem Gliede der Ge- meinschaft zu verlangen, dass es im gegebenen Fall für sie sterbe, ohne dass man ihm gestattet, für sie auch zu leben. Es ist nur viel leichter das Erstere zu erzwingen als zum Letztern dem Menschen auch nur die Fähigkeit mitzuteilen. Das Wirken für die Gemeinschaft will allerdings auch gelernt sein, und es ist Sache einer ungleich tiefer gehenden Erziehung, als etwa der Kasernenhof sie in bestimmter technischer Rück- sicht bieten kann und wirklich bietet. Es ist richtig, dass Bildung, sogar recht viel Bildung dazu gehört, in einem so komplizierten öffentlichen Leben, wie das heutige aller ent- wickelten Nationen ist, das Stimmrecht mit Verstand auszu- üben. Aber daraus kann allein gefolgert werden, dass man alles daran setzen sollte, eine gründliche Bildung selbst bis zur Stufe der Wissenschaft möglichst allgemein zu machen. Die Gebildeten und Erzogenen sollten auch die Regierenden sein; ich folgere: also muss allen eine solche Bildung und Er- ziehung gegeben werden, wie sie sie brauchen, um an der Re- gierung den Anteil nehmen zu dürfen, den das Gesetz des sozialen Lebens für alle fordert. Alles Andre sind blosse Be- schwichtigungsmittel, die als solche unverwerflich sein mögen, aber das Uebel nicht heilen, auch nicht verhindern können, dass es unter der Oberfläche fortwuchert, um im gegebenen Augenblick mit verdoppelter Stärke, vielleicht verhängnisvoll, wieder hervorzubrechen. Somit führt unsere zweite Tugend auf dieselbe Forderung wie die erste: gründliche Bildung für alle. Es muss ja auch wohl so sein, dass die Grund- tugenden des sozialen Lebens sich alle gegenseitig fordern, keine ohne die andere bestehen kann; so wie es an den indi- vidualen Tugenden früher dargethan worden ist. Die dritte Forderung ist die einer durchgängigen harmo- nischen Ordnung des Trieblebens der Gemeinschaft, worunter zu verstehen ist: eine solche Verteilung von Arbeit und Genuss des Arbeitsertrags, die eine verhältnis-

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/201>, abgerufen am 23.11.2024.