zu der ihr eigenen noch eine sittliche Sanktion erhält. Zu- letzt übrigens vereinigen sich beide Erwägungen. Denn wozu braucht der Mensch einen Willen, wenn nicht, um des sitt- lichen Willens fähig zu sein? Anders ausgedrückt: die Form, die überhaupt eine Gesetzmässigkeit sozialen Lebens garantiert, ist auch die einzige, die seine Gestaltung nach sittlichem Gesetz möglich macht. Somit muss aller- dings die rechtliche Ordnung bloss als solche, welches auch ihr Inhalt sei, zugleich im sittlichen Interesse respektiert werden, jedoch mit dem Beding, dass auf ihre Aenderung im Sinne der sittlichen Forderung, überall wo sie mit dieser nicht im Einklang steht, hingearbeitet wird mit den Mitteln, welche die Rechtsordnung selbst gestattet. Mehr und mehr wird aber auch, von der Stufe an, wo ein sittliches Bewusstsein über- haupt in der Gemeinschaft geweckt ist, das sittliche Ziel der Gemeinschaftsordnung wenigstens im Grundsatz anerkannt werden. So wie auch das schlechte Individuum innerhalb einer Gemeinschaft, die ein Sittliches überhaupt anerkennt, nicht um- hin kann Achtung gegen das sittliche Gebot wenigstens zu heucheln, so kann auch eine schlechte Gemeinschaftsordnung gar nicht umhin, wenigstens die Fiktion aufrechtzuhalten, dass sie sittlich begründet sei. Diese, wenn noch so erzwungene Anerkennung des Sittlichen aber giebt dem solcher Ordnung Unterworfenen das Recht, an seinem Teil darauf hinzuarbeiten, dass die soziale Ordnung sich diesem ihrem angeblichen sitt- lichen Charakter auch thatsächlich nähere. Und dies Recht steigert sich zur dringlichsten Pflicht, in dem Maasse wie die soziale Ordnung die höheren Gerechtsame der Vernunft damit thatsächlich anerkennt, dass sie, ihrer Fehlbarkeit sich be- wusst, für ihre mögliche Abänderung auf gesetzlichem Wege selber Fürsorge trifft. Wo immer ein solcher gesetz- licher Weg existiert, da darf, allein um deswillen, eine solche Ordnung, mag sie material noch so verkehrt sein, nicht schlechthin verworfen werden; ja da giebt es keinen Weg mehr, sich ihr sittlicher Weise zu entziehen. Viel- mehr besteht für den einer solchen Ordnung Unterworfenen eine zweifache Pflicht: die negative, die bestehende Ordnung,
zu der ihr eigenen noch eine sittliche Sanktion erhält. Zu- letzt übrigens vereinigen sich beide Erwägungen. Denn wozu braucht der Mensch einen Willen, wenn nicht, um des sitt- lichen Willens fähig zu sein? Anders ausgedrückt: die Form, die überhaupt eine Gesetzmässigkeit sozialen Lebens garantiert, ist auch die einzige, die seine Gestaltung nach sittlichem Gesetz möglich macht. Somit muss aller- dings die rechtliche Ordnung bloss als solche, welches auch ihr Inhalt sei, zugleich im sittlichen Interesse respektiert werden, jedoch mit dem Beding, dass auf ihre Aenderung im Sinne der sittlichen Forderung, überall wo sie mit dieser nicht im Einklang steht, hingearbeitet wird mit den Mitteln, welche die Rechtsordnung selbst gestattet. Mehr und mehr wird aber auch, von der Stufe an, wo ein sittliches Bewusstsein über- haupt in der Gemeinschaft geweckt ist, das sittliche Ziel der Gemeinschaftsordnung wenigstens im Grundsatz anerkannt werden. So wie auch das schlechte Individuum innerhalb einer Gemeinschaft, die ein Sittliches überhaupt anerkennt, nicht um- hin kann Achtung gegen das sittliche Gebot wenigstens zu heucheln, so kann auch eine schlechte Gemeinschaftsordnung gar nicht umhin, wenigstens die Fiktion aufrechtzuhalten, dass sie sittlich begründet sei. Diese, wenn noch so erzwungene Anerkennung des Sittlichen aber giebt dem solcher Ordnung Unterworfenen das Recht, an seinem Teil darauf hinzuarbeiten, dass die soziale Ordnung sich diesem ihrem angeblichen sitt- lichen Charakter auch thatsächlich nähere. Und dies Recht steigert sich zur dringlichsten Pflicht, in dem Maasse wie die soziale Ordnung die höheren Gerechtsame der Vernunft damit thatsächlich anerkennt, dass sie, ihrer Fehlbarkeit sich be- wusst, für ihre mögliche Abänderung auf gesetzlichem Wege selber Fürsorge trifft. Wo immer ein solcher gesetz- licher Weg existiert, da darf, allein um deswillen, eine solche Ordnung, mag sie material noch so verkehrt sein, nicht schlechthin verworfen werden; ja da giebt es keinen Weg mehr, sich ihr sittlicher Weise zu entziehen. Viel- mehr besteht für den einer solchen Ordnung Unterworfenen eine zweifache Pflicht: die negative, die bestehende Ordnung,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0197"n="181"/>
zu der ihr eigenen noch eine sittliche Sanktion erhält. Zu-<lb/>
letzt übrigens vereinigen sich beide Erwägungen. Denn wozu<lb/>
braucht der Mensch einen <hirendition="#g">Willen</hi>, wenn nicht, um des <hirendition="#g">sitt-<lb/>
lichen</hi> Willens fähig zu sein? Anders ausgedrückt: die<lb/>
Form, die <hirendition="#g">überhaupt eine Gesetzmässigkeit</hi> sozialen<lb/>
Lebens garantiert, ist auch die einzige, die seine Gestaltung<lb/><hirendition="#g">nach sittlichem Gesetz</hi> möglich macht. Somit muss aller-<lb/>
dings die rechtliche Ordnung <hirendition="#g">bloss als solche</hi>, welches<lb/>
auch ihr Inhalt sei, zugleich im sittlichen Interesse respektiert<lb/>
werden, jedoch mit dem Beding, dass auf ihre Aenderung im<lb/>
Sinne der sittlichen Forderung, überall wo sie mit dieser nicht<lb/>
im Einklang steht, hingearbeitet wird mit den Mitteln, welche<lb/>
die Rechtsordnung selbst gestattet. Mehr und mehr wird aber<lb/>
auch, von der Stufe an, wo ein sittliches Bewusstsein über-<lb/>
haupt in der Gemeinschaft geweckt ist, das sittliche Ziel der<lb/>
Gemeinschaftsordnung wenigstens im Grundsatz anerkannt<lb/>
werden. So wie auch das schlechte Individuum innerhalb einer<lb/>
Gemeinschaft, die ein Sittliches überhaupt anerkennt, nicht um-<lb/>
hin kann Achtung gegen das sittliche Gebot wenigstens zu<lb/>
heucheln, so kann auch eine schlechte Gemeinschaftsordnung<lb/>
gar nicht umhin, wenigstens die Fiktion aufrechtzuhalten, dass<lb/>
sie sittlich begründet sei. Diese, wenn noch so erzwungene<lb/>
Anerkennung des Sittlichen aber giebt dem solcher Ordnung<lb/>
Unterworfenen das Recht, an seinem Teil darauf hinzuarbeiten,<lb/>
dass die soziale Ordnung sich diesem ihrem angeblichen sitt-<lb/>
lichen Charakter auch thatsächlich nähere. Und dies Recht<lb/>
steigert sich zur dringlichsten Pflicht, in dem Maasse wie die<lb/>
soziale Ordnung die höheren Gerechtsame der Vernunft damit<lb/>
thatsächlich anerkennt, dass sie, ihrer Fehlbarkeit sich be-<lb/>
wusst, für ihre mögliche <hirendition="#g">Abänderung auf gesetzlichem<lb/>
Wege</hi> selber Fürsorge trifft. Wo immer ein solcher gesetz-<lb/>
licher Weg existiert, da darf, allein um deswillen, eine<lb/>
solche Ordnung, mag sie material noch so verkehrt sein,<lb/>
nicht schlechthin verworfen werden; ja da giebt es keinen<lb/>
Weg mehr, sich ihr sittlicher Weise zu entziehen. Viel-<lb/>
mehr besteht für den einer solchen Ordnung Unterworfenen<lb/>
eine zweifache Pflicht: die negative, die bestehende Ordnung,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[181/0197]
zu der ihr eigenen noch eine sittliche Sanktion erhält. Zu-
letzt übrigens vereinigen sich beide Erwägungen. Denn wozu
braucht der Mensch einen Willen, wenn nicht, um des sitt-
lichen Willens fähig zu sein? Anders ausgedrückt: die
Form, die überhaupt eine Gesetzmässigkeit sozialen
Lebens garantiert, ist auch die einzige, die seine Gestaltung
nach sittlichem Gesetz möglich macht. Somit muss aller-
dings die rechtliche Ordnung bloss als solche, welches
auch ihr Inhalt sei, zugleich im sittlichen Interesse respektiert
werden, jedoch mit dem Beding, dass auf ihre Aenderung im
Sinne der sittlichen Forderung, überall wo sie mit dieser nicht
im Einklang steht, hingearbeitet wird mit den Mitteln, welche
die Rechtsordnung selbst gestattet. Mehr und mehr wird aber
auch, von der Stufe an, wo ein sittliches Bewusstsein über-
haupt in der Gemeinschaft geweckt ist, das sittliche Ziel der
Gemeinschaftsordnung wenigstens im Grundsatz anerkannt
werden. So wie auch das schlechte Individuum innerhalb einer
Gemeinschaft, die ein Sittliches überhaupt anerkennt, nicht um-
hin kann Achtung gegen das sittliche Gebot wenigstens zu
heucheln, so kann auch eine schlechte Gemeinschaftsordnung
gar nicht umhin, wenigstens die Fiktion aufrechtzuhalten, dass
sie sittlich begründet sei. Diese, wenn noch so erzwungene
Anerkennung des Sittlichen aber giebt dem solcher Ordnung
Unterworfenen das Recht, an seinem Teil darauf hinzuarbeiten,
dass die soziale Ordnung sich diesem ihrem angeblichen sitt-
lichen Charakter auch thatsächlich nähere. Und dies Recht
steigert sich zur dringlichsten Pflicht, in dem Maasse wie die
soziale Ordnung die höheren Gerechtsame der Vernunft damit
thatsächlich anerkennt, dass sie, ihrer Fehlbarkeit sich be-
wusst, für ihre mögliche Abänderung auf gesetzlichem
Wege selber Fürsorge trifft. Wo immer ein solcher gesetz-
licher Weg existiert, da darf, allein um deswillen, eine
solche Ordnung, mag sie material noch so verkehrt sein,
nicht schlechthin verworfen werden; ja da giebt es keinen
Weg mehr, sich ihr sittlicher Weise zu entziehen. Viel-
mehr besteht für den einer solchen Ordnung Unterworfenen
eine zweifache Pflicht: die negative, die bestehende Ordnung,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/197>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.