Menschen zur Maschine gemacht; echte Gemeinschaft würde im Gegenteil die Individualität entbinden. Indessen kann man versuchen diesen augenblicklichen Zustand daraus zu verstehen, dass unter der zu schnellen Erweiterung des tech- nischen, wirtschaftlichen und sozialen Gesichtskreises die bis- herigen Organisationen von ihrer bindenden Kraft schon viel eingebüsst haben, während nicht ebenso schnell neue Organi- sationen (die jedoch überall im Werden begriffen sind) sich klar herausbilden und in den Gemütern der Menschen fest- wurzeln konnten.
Endlich waltet dasselbe Gesetz höchst erkennbar in der sittlichen Entwicklung. Hier ist völlig klar, wie das sitt- liche Gesetz alles menschliche Bestreben mit schlechthin all- gemeingültiger Norm umspannt, gerade durch die allgemeine Ordnung der Zwecke aber wiederum jedem sittlich möglichen Zwecke das Recht seiner Besonderheit gesichert, ja in weiter und weiter gehender Besonderung eine allseitige Entfaltung des Menschenwesens im lückenlosen Zusammenhang seiner verschiedenen Grundrichtungen ermöglicht wird. Ja ganz allgemein darf dies als das Grundgesetz der mensch- lichen Bildung ausgesprochen werden, die ja in der sitt- lichen Ordnung der Zwecke ihr letztes Fundament hat: das menschliche Wesen in dem ganzen Reichtum seines Gehalts doch zugleich in Einheit und stetigem Zusammenhang darzu- stellen und im gegebenen Subjekt nach dessen Vermögen der Vollendung zu nähern. Mit wahrem philosophischem Tiefblick hat unter den grossen Pädagogen Pestalozzi genau hierauf seine Theorie gegründet. Seine obersten Grundsätze sind -- wie wenn er sie aus Kant abgeleitet hätte (was doch erweis- lich nicht der Fall ist) --: die unteilbare Einheit und wesent- liche Identität der menschlichen Grundkräfte; andrerseits deren notwendig harmonische Entfaltung nach allen wesent- lichen Richtungen, so dass keine einzelne Seite vergewaltigt oder ungerecht bevorzugt wird; endlich der stetige, lücken- lose Fortschritt von den elementarsten Anfängen bis zu den höchsten Höhen des Menschentums. Und dem entspricht in genauer Konsequenz, dass an solcher wahrhaft menschlichen
Menschen zur Maschine gemacht; echte Gemeinschaft würde im Gegenteil die Individualität entbinden. Indessen kann man versuchen diesen augenblicklichen Zustand daraus zu verstehen, dass unter der zu schnellen Erweiterung des tech- nischen, wirtschaftlichen und sozialen Gesichtskreises die bis- herigen Organisationen von ihrer bindenden Kraft schon viel eingebüsst haben, während nicht ebenso schnell neue Organi- sationen (die jedoch überall im Werden begriffen sind) sich klar herausbilden und in den Gemütern der Menschen fest- wurzeln konnten.
Endlich waltet dasselbe Gesetz höchst erkennbar in der sittlichen Entwicklung. Hier ist völlig klar, wie das sitt- liche Gesetz alles menschliche Bestreben mit schlechthin all- gemeingültiger Norm umspannt, gerade durch die allgemeine Ordnung der Zwecke aber wiederum jedem sittlich möglichen Zwecke das Recht seiner Besonderheit gesichert, ja in weiter und weiter gehender Besonderung eine allseitige Entfaltung des Menschenwesens im lückenlosen Zusammenhang seiner verschiedenen Grundrichtungen ermöglicht wird. Ja ganz allgemein darf dies als das Grundgesetz der mensch- lichen Bildung ausgesprochen werden, die ja in der sitt- lichen Ordnung der Zwecke ihr letztes Fundament hat: das menschliche Wesen in dem ganzen Reichtum seines Gehalts doch zugleich in Einheit und stetigem Zusammenhang darzu- stellen und im gegebenen Subjekt nach dessen Vermögen der Vollendung zu nähern. Mit wahrem philosophischem Tiefblick hat unter den grossen Pädagogen Pestalozzi genau hierauf seine Theorie gegründet. Seine obersten Grundsätze sind — wie wenn er sie aus Kant abgeleitet hätte (was doch erweis- lich nicht der Fall ist) —: die unteilbare Einheit und wesent- liche Identität der menschlichen Grundkräfte; andrerseits deren notwendig harmonische Entfaltung nach allen wesent- lichen Richtungen, so dass keine einzelne Seite vergewaltigt oder ungerecht bevorzugt wird; endlich der stetige, lücken- lose Fortschritt von den elementarsten Anfängen bis zu den höchsten Höhen des Menschentums. Und dem entspricht in genauer Konsequenz, dass an solcher wahrhaft menschlichen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0191"n="175"/>
Menschen zur Maschine gemacht; echte Gemeinschaft würde<lb/>
im Gegenteil die Individualität entbinden. Indessen kann<lb/>
man versuchen diesen augenblicklichen Zustand daraus zu<lb/>
verstehen, dass unter der zu schnellen Erweiterung des tech-<lb/>
nischen, wirtschaftlichen und sozialen Gesichtskreises die bis-<lb/>
herigen Organisationen von ihrer bindenden Kraft schon viel<lb/>
eingebüsst haben, während nicht ebenso schnell neue Organi-<lb/>
sationen (die jedoch überall im Werden begriffen sind) sich<lb/>
klar herausbilden und in den Gemütern der Menschen fest-<lb/>
wurzeln konnten.</p><lb/><p>Endlich waltet dasselbe Gesetz höchst erkennbar in der<lb/><hirendition="#g">sittlichen</hi> Entwicklung. Hier ist völlig klar, wie das sitt-<lb/>
liche Gesetz alles menschliche Bestreben mit schlechthin all-<lb/>
gemeingültiger Norm umspannt, gerade durch die allgemeine<lb/>
Ordnung der Zwecke aber wiederum jedem sittlich möglichen<lb/>
Zwecke das Recht seiner Besonderheit gesichert, ja in weiter und<lb/>
weiter gehender Besonderung eine <hirendition="#g">allseitige Entfaltung<lb/>
des Menschenwesens</hi> im lückenlosen <hirendition="#g">Zusammenhang</hi><lb/>
seiner verschiedenen Grundrichtungen ermöglicht wird. Ja<lb/>
ganz allgemein darf dies als das <hirendition="#g">Grundgesetz der mensch-<lb/>
lichen Bildung</hi> ausgesprochen werden, die ja in der sitt-<lb/>
lichen Ordnung der Zwecke ihr letztes Fundament hat: das<lb/>
menschliche Wesen in dem ganzen Reichtum seines Gehalts<lb/>
doch zugleich in Einheit und stetigem Zusammenhang darzu-<lb/>
stellen und im gegebenen Subjekt nach dessen Vermögen der<lb/>
Vollendung zu nähern. Mit wahrem philosophischem Tiefblick<lb/>
hat unter den grossen Pädagogen <hirendition="#g">Pestalozzi</hi> genau hierauf<lb/>
seine Theorie gegründet. Seine obersten Grundsätze sind —<lb/>
wie wenn er sie aus Kant abgeleitet hätte (was doch erweis-<lb/>
lich nicht der Fall ist) —: die unteilbare <hirendition="#g">Einheit</hi> und wesent-<lb/>
liche Identität der menschlichen Grundkräfte; andrerseits deren<lb/>
notwendig <hirendition="#g">harmonische Entfaltung</hi> nach <hirendition="#g">allen</hi> wesent-<lb/>
lichen Richtungen, so dass keine einzelne Seite vergewaltigt<lb/>
oder ungerecht bevorzugt wird; endlich der stetige, <hirendition="#g">lücken-<lb/>
lose Fortschritt</hi> von den elementarsten Anfängen bis zu<lb/>
den höchsten Höhen des Menschentums. Und dem entspricht<lb/>
in genauer Konsequenz, dass an solcher wahrhaft menschlichen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[175/0191]
Menschen zur Maschine gemacht; echte Gemeinschaft würde
im Gegenteil die Individualität entbinden. Indessen kann
man versuchen diesen augenblicklichen Zustand daraus zu
verstehen, dass unter der zu schnellen Erweiterung des tech-
nischen, wirtschaftlichen und sozialen Gesichtskreises die bis-
herigen Organisationen von ihrer bindenden Kraft schon viel
eingebüsst haben, während nicht ebenso schnell neue Organi-
sationen (die jedoch überall im Werden begriffen sind) sich
klar herausbilden und in den Gemütern der Menschen fest-
wurzeln konnten.
Endlich waltet dasselbe Gesetz höchst erkennbar in der
sittlichen Entwicklung. Hier ist völlig klar, wie das sitt-
liche Gesetz alles menschliche Bestreben mit schlechthin all-
gemeingültiger Norm umspannt, gerade durch die allgemeine
Ordnung der Zwecke aber wiederum jedem sittlich möglichen
Zwecke das Recht seiner Besonderheit gesichert, ja in weiter und
weiter gehender Besonderung eine allseitige Entfaltung
des Menschenwesens im lückenlosen Zusammenhang
seiner verschiedenen Grundrichtungen ermöglicht wird. Ja
ganz allgemein darf dies als das Grundgesetz der mensch-
lichen Bildung ausgesprochen werden, die ja in der sitt-
lichen Ordnung der Zwecke ihr letztes Fundament hat: das
menschliche Wesen in dem ganzen Reichtum seines Gehalts
doch zugleich in Einheit und stetigem Zusammenhang darzu-
stellen und im gegebenen Subjekt nach dessen Vermögen der
Vollendung zu nähern. Mit wahrem philosophischem Tiefblick
hat unter den grossen Pädagogen Pestalozzi genau hierauf
seine Theorie gegründet. Seine obersten Grundsätze sind —
wie wenn er sie aus Kant abgeleitet hätte (was doch erweis-
lich nicht der Fall ist) —: die unteilbare Einheit und wesent-
liche Identität der menschlichen Grundkräfte; andrerseits deren
notwendig harmonische Entfaltung nach allen wesent-
lichen Richtungen, so dass keine einzelne Seite vergewaltigt
oder ungerecht bevorzugt wird; endlich der stetige, lücken-
lose Fortschritt von den elementarsten Anfängen bis zu
den höchsten Höhen des Menschentums. Und dem entspricht
in genauer Konsequenz, dass an solcher wahrhaft menschlichen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/191>, abgerufen am 06.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.