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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Bewusstseins; nicht indem dies erstere sich in dies letztere auf-
löst, wie es nach der "materialistischen" Ansicht nicht bloss
der Marxisten, sondern der Evolutionisten jeder Färbung er-
scheint, sondern unter voller Wahrung der inneren Verschieden-
heit beider Gesetzlichkeiten, die gleichwohl darin eins und
verbunden sind, dass sie beide Gesetzlichkeiten des Bewusst-
seins, ja zuletzt nur verschiedene Ausdrücke eines und des-
selben Grundgesetzes der "Einheit des Mannigfaltigen" sind.

Es ist sehr bemerkenswert, dass die neuere Forschung
über die Gesetzlichkeit der sozialen Entwicklung genau auf
diesen Punkt hindrängt. Wie nämlich auch das endgültige
Urteil über die "materialistische Geschichtsauffassung" fallen
mag, darin ist sie sicher nicht auf falscher Fährte, dass sie
die Gesetzlichkeit der sozialen, d. i. zunächst der wirtschaft-
lich-rechtlichen Entwicklung an den gesetzmässigen Fortschritt
der Technik, also zuletzt der Naturwissenschaft knüpft; dass
sie die Veränderungen des sozialen Lebens allgemein aus den
"Bewegungen der Materie des sozialen Lebens"*)
zu begreifen sucht. Das ist es genau, worauf unsere Prämissen
führen; nur gestatten sie uns nicht hierbei nun stehen zu
bleiben, sondern nötigen vielmehr, diesen einen Faktor der
Entwicklung in genauen, innerlich vermittelten Connex zu
setzen mit dem andern, den die materialistische Geschichts-
auffassung abzulehnen mindestens scheinen kann: mit der Idee,
und zwar der sittlichen Idee. Die materialistische Geschichts-
auffassung ist im Irrtum genau so weit, als sie materialistisch
sein will und zu sein glaubt; eine andre Frage ist, ob sie es,
dem letzten treibenden Motiv nach, nicht vielleicht weniger ist
als ihr selber bewusst ist.

Was wir an ihr unumwunden anerkennen, ist dies: In
den weiter und weiter gehenden Möglichkeiten technischer Be-
herrschung der toten Naturkraft ergeben sich zugleich nicht
bloss neue Möglichkeiten, sondern die entscheidendsten An-
triebe zu sozialen Gestaltungen, die auf mehr vereinte Arbeit

*) Stammler, S. 325. (Genaueres über dessen Stellung zu unsrer Frage,
Arch. II, 340 f.)

Bewusstseins; nicht indem dies erstere sich in dies letztere auf-
löst, wie es nach der „materialistischen“ Ansicht nicht bloss
der Marxisten, sondern der Evolutionisten jeder Färbung er-
scheint, sondern unter voller Wahrung der inneren Verschieden-
heit beider Gesetzlichkeiten, die gleichwohl darin eins und
verbunden sind, dass sie beide Gesetzlichkeiten des Bewusst-
seins, ja zuletzt nur verschiedene Ausdrücke eines und des-
selben Grundgesetzes der „Einheit des Mannigfaltigen“ sind.

Es ist sehr bemerkenswert, dass die neuere Forschung
über die Gesetzlichkeit der sozialen Entwicklung genau auf
diesen Punkt hindrängt. Wie nämlich auch das endgültige
Urteil über die „materialistische Geschichtsauffassung“ fallen
mag, darin ist sie sicher nicht auf falscher Fährte, dass sie
die Gesetzlichkeit der sozialen, d. i. zunächst der wirtschaft-
lich-rechtlichen Entwicklung an den gesetzmässigen Fortschritt
der Technik, also zuletzt der Naturwissenschaft knüpft; dass
sie die Veränderungen des sozialen Lebens allgemein aus den
Bewegungen der Materie des sozialen Lebens*)
zu begreifen sucht. Das ist es genau, worauf unsere Prämissen
führen; nur gestatten sie uns nicht hierbei nun stehen zu
bleiben, sondern nötigen vielmehr, diesen einen Faktor der
Entwicklung in genauen, innerlich vermittelten Connex zu
setzen mit dem andern, den die materialistische Geschichts-
auffassung abzulehnen mindestens scheinen kann: mit der Idee,
und zwar der sittlichen Idee. Die materialistische Geschichts-
auffassung ist im Irrtum genau so weit, als sie materialistisch
sein will und zu sein glaubt; eine andre Frage ist, ob sie es,
dem letzten treibenden Motiv nach, nicht vielleicht weniger ist
als ihr selber bewusst ist.

Was wir an ihr unumwunden anerkennen, ist dies: In
den weiter und weiter gehenden Möglichkeiten technischer Be-
herrschung der toten Naturkraft ergeben sich zugleich nicht
bloss neue Möglichkeiten, sondern die entscheidendsten An-
triebe zu sozialen Gestaltungen, die auf mehr vereinte Arbeit

*) Stammler, S. 325. (Genaueres über dessen Stellung zu unsrer Frage,
Arch. II, 340 f.)
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[164/0180] Bewusstseins; nicht indem dies erstere sich in dies letztere auf- löst, wie es nach der „materialistischen“ Ansicht nicht bloss der Marxisten, sondern der Evolutionisten jeder Färbung er- scheint, sondern unter voller Wahrung der inneren Verschieden- heit beider Gesetzlichkeiten, die gleichwohl darin eins und verbunden sind, dass sie beide Gesetzlichkeiten des Bewusst- seins, ja zuletzt nur verschiedene Ausdrücke eines und des- selben Grundgesetzes der „Einheit des Mannigfaltigen“ sind. Es ist sehr bemerkenswert, dass die neuere Forschung über die Gesetzlichkeit der sozialen Entwicklung genau auf diesen Punkt hindrängt. Wie nämlich auch das endgültige Urteil über die „materialistische Geschichtsauffassung“ fallen mag, darin ist sie sicher nicht auf falscher Fährte, dass sie die Gesetzlichkeit der sozialen, d. i. zunächst der wirtschaft- lich-rechtlichen Entwicklung an den gesetzmässigen Fortschritt der Technik, also zuletzt der Naturwissenschaft knüpft; dass sie die Veränderungen des sozialen Lebens allgemein aus den „Bewegungen der Materie des sozialen Lebens“ *) zu begreifen sucht. Das ist es genau, worauf unsere Prämissen führen; nur gestatten sie uns nicht hierbei nun stehen zu bleiben, sondern nötigen vielmehr, diesen einen Faktor der Entwicklung in genauen, innerlich vermittelten Connex zu setzen mit dem andern, den die materialistische Geschichts- auffassung abzulehnen mindestens scheinen kann: mit der Idee, und zwar der sittlichen Idee. Die materialistische Geschichts- auffassung ist im Irrtum genau so weit, als sie materialistisch sein will und zu sein glaubt; eine andre Frage ist, ob sie es, dem letzten treibenden Motiv nach, nicht vielleicht weniger ist als ihr selber bewusst ist. Was wir an ihr unumwunden anerkennen, ist dies: In den weiter und weiter gehenden Möglichkeiten technischer Be- herrschung der toten Naturkraft ergeben sich zugleich nicht bloss neue Möglichkeiten, sondern die entscheidendsten An- triebe zu sozialen Gestaltungen, die auf mehr vereinte Arbeit *) Stammler, S. 325. (Genaueres über dessen Stellung zu unsrer Frage, Arch. II, 340 f.)

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/180>, abgerufen am 06.05.2024.