Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851.ein Dokument wie Millionen geschrieben werden, um 3 *
ein Dokument wie Millionen geſchrieben werden, um 3 *
<TEI> <text> <body> <p><pb facs="#f0041" n="35"/> ein Dokument wie Millionen geſchrieben werden, um<lb/> thörichte Mädchen zu täuſchen und noch thörichter zu<lb/> machen. Nichts iſt lächerlicher als dieſe Art Liebes¬<lb/> briefe, einer iſt dem andern wie aus den Augen ge¬<lb/> ſchnitten. Die Schreiber finden in jedem Mädchen<lb/> eine Göttin, einen Engel, ein höheres Weſen; die<lb/> Empfängerin aber meint, das paſſe nur ganz allein<lb/> auf ſie; ihre Bruſt hebt ſich ſtolzer, denn ſie iſt vor<lb/> vielen Tauſenden beglückt. Ferner ſteht in den Brie¬<lb/> fen von heißer Liebe, von unerträglichen Qualen und<lb/> ewigen Gefühlen. Das iſt Alles ſehr glaubwürdig,<lb/> denn man iſt ja wirklich ſo liebenswerth, man müßte<lb/> aber ein Herz von Stein haben, den Armen ſo leiden<lb/> zu ſehen, man muß ihn wieder lieben. Schmerz oder<lb/> Unglück kann ſich nie nahen, denn ſeine Gefühle ſind<lb/> ewig, und ihr Glück wird auch ewig ſein. Daß dieſe<lb/> Ewigkeit der Liebesbriefe ſelten über ein Jahr hinaus<lb/> reicht, glaubt man nicht; man hat zwar ſchon oft<lb/> davon reden hören, aber dieſe Verſicherungen, dieſe Schil¬<lb/> derungen müſſen Wahrheit ſein. So glaubte auch<lb/> Klärchen, als ſie ihren Brief geleſen. Ihr Herz hüpfte<lb/> vor Entzücken, durch ihre Klugheit hatte ſie es ſo weit<lb/> gebracht, daß er Ernſt machte; nun wollte ſie ihn auch<lb/> nicht länger ſchmachten laſſen und ihm ihre Liebe zei¬<lb/> gen. Sie hätte gern gleich geantwortet, aber ſie war<lb/> heut Abend zu Tante Rieke eingeladen und hatte ver¬<lb/> ſprochen um 6 Uhr die Mutter abzuholen, und ſo ein<lb/> Liebesbrief war keine Kleinigkeit, der mußte mit Be¬<lb/> dacht geſchrieben werden. Sie ging alſo, wenn auch<lb/> in höchſter Unruhe. Den empfangenen Brief trug ſie<lb/> natürlich auf dem Herzen.<lb/></p> <fw place="bottom" type="sig">3 *<lb/></fw> </body> </text> </TEI> [35/0041]
ein Dokument wie Millionen geſchrieben werden, um
thörichte Mädchen zu täuſchen und noch thörichter zu
machen. Nichts iſt lächerlicher als dieſe Art Liebes¬
briefe, einer iſt dem andern wie aus den Augen ge¬
ſchnitten. Die Schreiber finden in jedem Mädchen
eine Göttin, einen Engel, ein höheres Weſen; die
Empfängerin aber meint, das paſſe nur ganz allein
auf ſie; ihre Bruſt hebt ſich ſtolzer, denn ſie iſt vor
vielen Tauſenden beglückt. Ferner ſteht in den Brie¬
fen von heißer Liebe, von unerträglichen Qualen und
ewigen Gefühlen. Das iſt Alles ſehr glaubwürdig,
denn man iſt ja wirklich ſo liebenswerth, man müßte
aber ein Herz von Stein haben, den Armen ſo leiden
zu ſehen, man muß ihn wieder lieben. Schmerz oder
Unglück kann ſich nie nahen, denn ſeine Gefühle ſind
ewig, und ihr Glück wird auch ewig ſein. Daß dieſe
Ewigkeit der Liebesbriefe ſelten über ein Jahr hinaus
reicht, glaubt man nicht; man hat zwar ſchon oft
davon reden hören, aber dieſe Verſicherungen, dieſe Schil¬
derungen müſſen Wahrheit ſein. So glaubte auch
Klärchen, als ſie ihren Brief geleſen. Ihr Herz hüpfte
vor Entzücken, durch ihre Klugheit hatte ſie es ſo weit
gebracht, daß er Ernſt machte; nun wollte ſie ihn auch
nicht länger ſchmachten laſſen und ihm ihre Liebe zei¬
gen. Sie hätte gern gleich geantwortet, aber ſie war
heut Abend zu Tante Rieke eingeladen und hatte ver¬
ſprochen um 6 Uhr die Mutter abzuholen, und ſo ein
Liebesbrief war keine Kleinigkeit, der mußte mit Be¬
dacht geſchrieben werden. Sie ging alſo, wenn auch
in höchſter Unruhe. Den empfangenen Brief trug ſie
natürlich auf dem Herzen.
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