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Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851.

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pfaffe sang "Lobe den Herrn o meine Seele". Wenn
dann Gretchens Kinderstimme einfiel, sagte Benjamin:
"Gretchen, so recht," und der Staarmatz schnarrte:
"Gretchen, so recht."

Auch jetzt sah Benjamins weißer Kopf zum Fen¬
ster hinaus; der Staarmatz aber rief: "Jungfer Gret¬
chen," und Fritz ward dadurch erinnert, daß es doch
andere Zeiten seien.

Ei Gretchen, sagte Benjamin, Du singst einem
heut ordentlich das Herze weich; was ist Dir denn?

Wenn ich wußte, daß Du heim warst, hätte ich
nicht gesungen, sagte Gretchen; ich glaubte, ich wäre
ganz allein hier in der Welt. Jetzt komm aber herü¬
ber und bring die große Bilderbibel mit, ich weiß
nicht recht, was ich so mutterseelen allein mit dem
Sonntag-Nachmittag beginnen soll.

Gretchen war nämlich von ihrer Pflegemutter, die
einige Krankenbesuche machen wollte, als sie Nachmittags
aus der Kirche kamen, allein nach Hause geschickt; und
weil sich Gretchen eigentlich gefreut hatte, zu verwand¬
ten Gärtnersleuten vor dem Thor zu gehen, so war
ihr das zu Hause bleiben gar nicht recht. In der
Stube war es ihr einsam, sie nahm mancherlei in
die Hand, ein Buch, ein Arbeitszeug, -- nichts be¬
hagte ihr. Der Nachmittag wollte nicht kürzer wer¬
den, und sie begriff nicht, warum sie so unruhig
war. Sollte es sein, weil Fritz Buchstein sich zum
Abend angemeldet hat? Sie ward feuerroth bei dem
Gedanken. Warum aber sollte sie sich freuen ihn wie¬
der zu sehen? sie war wenigstens begierig zu sehen

pfaffe ſang „Lobe den Herrn o meine Seele“. Wenn
dann Gretchens Kinderſtimme einfiel, ſagte Benjamin:
„Gretchen, ſo recht,“ und der Staarmatz ſchnarrte:
„Gretchen, ſo recht.“

Auch jetzt ſah Benjamins weißer Kopf zum Fen¬
ſter hinaus; der Staarmatz aber rief: „Jungfer Gret¬
chen,“ und Fritz ward dadurch erinnert, daß es doch
andere Zeiten ſeien.

Ei Gretchen, ſagte Benjamin, Du ſingſt einem
heut ordentlich das Herze weich; was iſt Dir denn?

Wenn ich wußte, daß Du heim warſt, hätte ich
nicht geſungen, ſagte Gretchen; ich glaubte, ich wäre
ganz allein hier in der Welt. Jetzt komm aber herü¬
ber und bring die große Bilderbibel mit, ich weiß
nicht recht, was ich ſo mutterſeelen allein mit dem
Sonntag-Nachmittag beginnen ſoll.

Gretchen war nämlich von ihrer Pflegemutter, die
einige Krankenbeſuche machen wollte, als ſie Nachmittags
aus der Kirche kamen, allein nach Hauſe geſchickt; und
weil ſich Gretchen eigentlich gefreut hatte, zu verwand¬
ten Gärtnersleuten vor dem Thor zu gehen, ſo war
ihr das zu Hauſe bleiben gar nicht recht. In der
Stube war es ihr einſam, ſie nahm mancherlei in
die Hand, ein Buch, ein Arbeitszeug, — nichts be¬
hagte ihr. Der Nachmittag wollte nicht kürzer wer¬
den, und ſie begriff nicht, warum ſie ſo unruhig
war. Sollte es ſein, weil Fritz Buchſtein ſich zum
Abend angemeldet hat? Sie ward feuerroth bei dem
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[25/0031] pfaffe ſang „Lobe den Herrn o meine Seele“. Wenn dann Gretchens Kinderſtimme einfiel, ſagte Benjamin: „Gretchen, ſo recht,“ und der Staarmatz ſchnarrte: „Gretchen, ſo recht.“ Auch jetzt ſah Benjamins weißer Kopf zum Fen¬ ſter hinaus; der Staarmatz aber rief: „Jungfer Gret¬ chen,“ und Fritz ward dadurch erinnert, daß es doch andere Zeiten ſeien. Ei Gretchen, ſagte Benjamin, Du ſingſt einem heut ordentlich das Herze weich; was iſt Dir denn? Wenn ich wußte, daß Du heim warſt, hätte ich nicht geſungen, ſagte Gretchen; ich glaubte, ich wäre ganz allein hier in der Welt. Jetzt komm aber herü¬ ber und bring die große Bilderbibel mit, ich weiß nicht recht, was ich ſo mutterſeelen allein mit dem Sonntag-Nachmittag beginnen ſoll. Gretchen war nämlich von ihrer Pflegemutter, die einige Krankenbeſuche machen wollte, als ſie Nachmittags aus der Kirche kamen, allein nach Hauſe geſchickt; und weil ſich Gretchen eigentlich gefreut hatte, zu verwand¬ ten Gärtnersleuten vor dem Thor zu gehen, ſo war ihr das zu Hauſe bleiben gar nicht recht. In der Stube war es ihr einſam, ſie nahm mancherlei in die Hand, ein Buch, ein Arbeitszeug, — nichts be¬ hagte ihr. Der Nachmittag wollte nicht kürzer wer¬ den, und ſie begriff nicht, warum ſie ſo unruhig war. Sollte es ſein, weil Fritz Buchſtein ſich zum Abend angemeldet hat? Sie ward feuerroth bei dem Gedanken. Warum aber ſollte ſie ſich freuen ihn wie¬ der zu ſehen? ſie war wenigſtens begierig zu ſehen

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Zitationshilfe: Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851/31>, abgerufen am 21.11.2024.