Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

fühlte, daß Günther einem Abgrund entgegen ging,
in den er sie mit hinein ziehen würde. Angst in der
Gegenwart, Furcht vor der Zukunft trieb sie Hülfe
zu suchen, und da sie recht gut wußte, daß ihr Men¬
schen nicht helfen konnten, wollte sie es mit dem Him¬
mel versuchen. Die Predigt heut machte ihr neuen
Muth dazu, und der Prediger, der so mild und lieb¬
reich geredet, hatte ihr ganzes Herz gewonnen; ihm
näher zu kommen und sich ihm anzuvertrauen, war
ihr höchster Wunsch. Menschen wußte sie außerdem
nicht, die ihr hätten rathen können; der Tante Rieke
ernste Reden und Ermahnungen hatte sie stets mit
Gleichgültigkeit, Widerspruch und Lachen aufgenom¬
men; der ihr Unglück aufzudecken und ihr Unrecht zu
gestehen, fühlte sie eine unüberwindliche Scheu.

Als der letzte Vers gesungen war, leerte sich die
volle Kirche, nur im Chor sammelte sich eine kleinere
Anzahl, um das Brautpaar trauen zu sehen. Auch
Klärchen trat hinzu, aufrichtige Theilnahme an Gret¬
chens Schicksal veranlaßte sie dazu. Freilich kamen
ihrem Herzen gar sonderbare Gedanken. Wo Gret¬
chen steht, könntest du auch stehen, und was ist das
für ein Mann! Sie hatte ihn immer schon bewun¬
dert und zu gut gefunden für Gretchen, aber in ihrer
eignen Thorheit war sie verblendet und hatte seines
Herzens Sprache mit Verachtung erwidert. Jetzt stand
er da, so schön und männlich, mit so mildem, liebe¬
vollem Ausdruck. Klärchen traten die Thränen in die
Augen und ihr Herz war so bewegt. Als der Predi¬
ger die Versammlung aufforderte, für das junge Paar
mit zu beten, faltete sie die Hände und brachte zum

fühlte, daß Günther einem Abgrund entgegen ging,
in den er ſie mit hinein ziehen würde. Angſt in der
Gegenwart, Furcht vor der Zukunft trieb ſie Hülfe
zu ſuchen, und da ſie recht gut wußte, daß ihr Men¬
ſchen nicht helfen konnten, wollte ſie es mit dem Him¬
mel verſuchen. Die Predigt heut machte ihr neuen
Muth dazu, und der Prediger, der ſo mild und lieb¬
reich geredet, hatte ihr ganzes Herz gewonnen; ihm
näher zu kommen und ſich ihm anzuvertrauen, war
ihr höchſter Wunſch. Menſchen wußte ſie außerdem
nicht, die ihr hätten rathen können; der Tante Rieke
ernſte Reden und Ermahnungen hatte ſie ſtets mit
Gleichgültigkeit, Widerſpruch und Lachen aufgenom¬
men; der ihr Unglück aufzudecken und ihr Unrecht zu
geſtehen, fühlte ſie eine unüberwindliche Scheu.

Als der letzte Vers geſungen war, leerte ſich die
volle Kirche, nur im Chor ſammelte ſich eine kleinere
Anzahl, um das Brautpaar trauen zu ſehen. Auch
Klärchen trat hinzu, aufrichtige Theilnahme an Gret¬
chens Schickſal veranlaßte ſie dazu. Freilich kamen
ihrem Herzen gar ſonderbare Gedanken. Wo Gret¬
chen ſteht, könnteſt du auch ſtehen, und was iſt das
für ein Mann! Sie hatte ihn immer ſchon bewun¬
dert und zu gut gefunden für Gretchen, aber in ihrer
eignen Thorheit war ſie verblendet und hatte ſeines
Herzens Sprache mit Verachtung erwidert. Jetzt ſtand
er da, ſo ſchön und männlich, mit ſo mildem, liebe¬
vollem Ausdruck. Klärchen traten die Thränen in die
Augen und ihr Herz war ſo bewegt. Als der Predi¬
ger die Verſammlung aufforderte, für das junge Paar
mit zu beten, faltete ſie die Hände und brachte zum

<TEI>
  <text>
    <body>
      <p><pb facs="#f0124" n="118"/>
fühlte, daß Günther einem Abgrund entgegen ging,<lb/>
in den er &#x017F;ie mit hinein ziehen würde. Ang&#x017F;t in der<lb/>
Gegenwart, Furcht vor der Zukunft trieb &#x017F;ie Hülfe<lb/>
zu &#x017F;uchen, und da &#x017F;ie recht gut wußte, daß ihr Men¬<lb/>
&#x017F;chen nicht helfen konnten, wollte &#x017F;ie es mit dem Him¬<lb/>
mel ver&#x017F;uchen. Die Predigt heut machte ihr neuen<lb/>
Muth dazu, und der Prediger, der &#x017F;o mild und lieb¬<lb/>
reich geredet, hatte ihr ganzes Herz gewonnen; ihm<lb/>
näher zu kommen und &#x017F;ich ihm anzuvertrauen, war<lb/>
ihr höch&#x017F;ter Wun&#x017F;ch. Men&#x017F;chen wußte &#x017F;ie außerdem<lb/>
nicht, die ihr hätten rathen können; der Tante Rieke<lb/>
ern&#x017F;te Reden und Ermahnungen hatte &#x017F;ie &#x017F;tets mit<lb/>
Gleichgültigkeit, Wider&#x017F;pruch und Lachen aufgenom¬<lb/>
men; <hi rendition="#g">der</hi> ihr Unglück aufzudecken und ihr Unrecht zu<lb/>
ge&#x017F;tehen, fühlte &#x017F;ie eine unüberwindliche Scheu.</p><lb/>
      <p>Als der letzte Vers ge&#x017F;ungen war, leerte &#x017F;ich die<lb/>
volle Kirche, nur im Chor &#x017F;ammelte &#x017F;ich eine kleinere<lb/>
Anzahl, um das Brautpaar trauen zu &#x017F;ehen. Auch<lb/>
Klärchen trat hinzu, aufrichtige Theilnahme an Gret¬<lb/>
chens Schick&#x017F;al veranlaßte &#x017F;ie dazu. Freilich kamen<lb/>
ihrem Herzen gar &#x017F;onderbare Gedanken. Wo Gret¬<lb/>
chen &#x017F;teht, könnte&#x017F;t du auch &#x017F;tehen, und was i&#x017F;t das<lb/>
für ein Mann! Sie hatte ihn immer &#x017F;chon bewun¬<lb/>
dert und zu gut gefunden für Gretchen, aber in ihrer<lb/>
eignen Thorheit war &#x017F;ie verblendet und hatte &#x017F;eines<lb/>
Herzens Sprache mit Verachtung erwidert. Jetzt &#x017F;tand<lb/>
er da, &#x017F;o &#x017F;chön und männlich, mit &#x017F;o mildem, liebe¬<lb/>
vollem Ausdruck. Klärchen traten die Thränen in die<lb/>
Augen und ihr Herz war &#x017F;o bewegt. Als der Predi¬<lb/>
ger die Ver&#x017F;ammlung aufforderte, für das junge Paar<lb/>
mit zu beten, faltete &#x017F;ie die Hände und brachte zum<lb/></p>
    </body>
  </text>
</TEI>
[118/0124] fühlte, daß Günther einem Abgrund entgegen ging, in den er ſie mit hinein ziehen würde. Angſt in der Gegenwart, Furcht vor der Zukunft trieb ſie Hülfe zu ſuchen, und da ſie recht gut wußte, daß ihr Men¬ ſchen nicht helfen konnten, wollte ſie es mit dem Him¬ mel verſuchen. Die Predigt heut machte ihr neuen Muth dazu, und der Prediger, der ſo mild und lieb¬ reich geredet, hatte ihr ganzes Herz gewonnen; ihm näher zu kommen und ſich ihm anzuvertrauen, war ihr höchſter Wunſch. Menſchen wußte ſie außerdem nicht, die ihr hätten rathen können; der Tante Rieke ernſte Reden und Ermahnungen hatte ſie ſtets mit Gleichgültigkeit, Widerſpruch und Lachen aufgenom¬ men; der ihr Unglück aufzudecken und ihr Unrecht zu geſtehen, fühlte ſie eine unüberwindliche Scheu. Als der letzte Vers geſungen war, leerte ſich die volle Kirche, nur im Chor ſammelte ſich eine kleinere Anzahl, um das Brautpaar trauen zu ſehen. Auch Klärchen trat hinzu, aufrichtige Theilnahme an Gret¬ chens Schickſal veranlaßte ſie dazu. Freilich kamen ihrem Herzen gar ſonderbare Gedanken. Wo Gret¬ chen ſteht, könnteſt du auch ſtehen, und was iſt das für ein Mann! Sie hatte ihn immer ſchon bewun¬ dert und zu gut gefunden für Gretchen, aber in ihrer eignen Thorheit war ſie verblendet und hatte ſeines Herzens Sprache mit Verachtung erwidert. Jetzt ſtand er da, ſo ſchön und männlich, mit ſo mildem, liebe¬ vollem Ausdruck. Klärchen traten die Thränen in die Augen und ihr Herz war ſo bewegt. Als der Predi¬ ger die Verſammlung aufforderte, für das junge Paar mit zu beten, faltete ſie die Hände und brachte zum

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851/124
Zitationshilfe: Nathusius, Marie: Die Kammerjungfer. Eine Stadtgeschichte. Halle (Saale), 1851, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nathusius_kammerjungfer_1851/124>, abgerufen am 25.11.2024.