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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779.

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Er. O der ist keiner der Empfindler, die
sich über ein Mädchen entkehlen, er weiß
wohl: non desicit altera. -- Sie sehn,
ich bin ein zärtlicher Vater, ich zwinge
meine Tochter zu nichts, sie soll ihren
Willen haben. Vielleicht ist ihr Entschluß
gut. Nach meinem Tode dürften sich Mut-
ter und Tochter weniger als iezt zusammen
vertragen, drum will ich sie scheiden. --
Meine Frau mag das irdische Wohl der
Familie berathen, und das Mädchen mag
nach ihrem Willen, Gott und der Tugend
in der Stille dienen.

Jch. Nicht also, mein Freund, nicht also!
das wär die verkehrte Welt. Als Madani
Agricola nach ihres Mannes Hinscheiden,
mit ihrer Tochter nach Rußland zog, wur-
den beyde, die erste bey der Kirche, die an-
dere beym Theater engagirt. So ists in
der Ordnung der Dinge, die Mutter muß
dem Himmel dienen, und die Tochter der

Welt
P

Er. O der iſt keiner der Empfindler, die
ſich uͤber ein Maͤdchen entkehlen, er weiß
wohl: non deſicit altera. — Sie ſehn,
ich bin ein zaͤrtlicher Vater, ich zwinge
meine Tochter zu nichts, ſie ſoll ihren
Willen haben. Vielleicht iſt ihr Entſchluß
gut. Nach meinem Tode duͤrften ſich Mut-
ter und Tochter weniger als iezt zuſammen
vertragen, drum will ich ſie ſcheiden. —
Meine Frau mag das irdiſche Wohl der
Familie berathen, und das Maͤdchen mag
nach ihrem Willen, Gott und der Tugend
in der Stille dienen.

Jch. Nicht alſo, mein Freund, nicht alſo!
das waͤr die verkehrte Welt. Als Madani
Agricola nach ihres Mannes Hinſcheiden,
mit ihrer Tochter nach Rußland zog, wur-
den beyde, die erſte bey der Kirche, die an-
dere beym Theater engagirt. So iſts in
der Ordnung der Dinge, die Mutter muß
dem Himmel dienen, und die Tochter der

Welt
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[225/0233] Er. O der iſt keiner der Empfindler, die ſich uͤber ein Maͤdchen entkehlen, er weiß wohl: non deſicit altera. — Sie ſehn, ich bin ein zaͤrtlicher Vater, ich zwinge meine Tochter zu nichts, ſie ſoll ihren Willen haben. Vielleicht iſt ihr Entſchluß gut. Nach meinem Tode duͤrften ſich Mut- ter und Tochter weniger als iezt zuſammen vertragen, drum will ich ſie ſcheiden. — Meine Frau mag das irdiſche Wohl der Familie berathen, und das Maͤdchen mag nach ihrem Willen, Gott und der Tugend in der Stille dienen. Jch. Nicht alſo, mein Freund, nicht alſo! das waͤr die verkehrte Welt. Als Madani Agricola nach ihres Mannes Hinſcheiden, mit ihrer Tochter nach Rußland zog, wur- den beyde, die erſte bey der Kirche, die an- dere beym Theater engagirt. So iſts in der Ordnung der Dinge, die Mutter muß dem Himmel dienen, und die Tochter der Welt P

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/233>, abgerufen am 24.04.2024.