überall mit ihrem Herzpatron sehr viel Aehn- lichkeit gehabt haben. Oder ist ihr Herz noch res nullius die dem ersten Besitzneh- mer anheim fällt, sich bloß leidend verhält und alles sich gefallen läßt? Oder sollte sie wohl gar mein Absehen vermerkt und ihr muthwilliges Spiel mit mir getrieben haben mich zu hetzen? Toll genug! -- Aber wenn ich ihre Physiognomie betracht', die offne Stirn, ihr unbefangnes Auge, aus dem keine Schalkheit hervorsieht, die Tink- tur von Bescheidenheit und mackelloser Un- schuld im naifen Blick und in den Mienen: so kan ich ihr weder die Verschmiztheit noch den Muthwillen zutrauen, mich am Narren- seil umführen zu wollen. Daß sie allen Freyern gleichen Werth giebt ist mir viel- mehr Beweiß, daß sie keinen ins Herz ge- schlossen habe, und ich urtheile daraus, sie gehöre in der Gemeinde der Liebenden noch nicht zu den Jnspirirten, sondern zur Jn-
differen-
O 3
uͤberall mit ihrem Herzpatron ſehr viel Aehn- lichkeit gehabt haben. Oder iſt ihr Herz noch res nullius die dem erſten Beſitzneh- mer anheim faͤllt, ſich bloß leidend verhaͤlt und alles ſich gefallen laͤßt? Oder ſollte ſie wohl gar mein Abſehen vermerkt und ihr muthwilliges Spiel mit mir getrieben haben mich zu hetzen? Toll genug! — Aber wenn ich ihre Phyſiognomie betracht’, die offne Stirn, ihr unbefangnes Auge, aus dem keine Schalkheit hervorſieht, die Tink- tur von Beſcheidenheit und mackelloſer Un- ſchuld im naifen Blick und in den Mienen: ſo kan ich ihr weder die Verſchmiztheit noch den Muthwillen zutrauen, mich am Narren- ſeil umfuͤhren zu wollen. Daß ſie allen Freyern gleichen Werth giebt iſt mir viel- mehr Beweiß, daß ſie keinen ins Herz ge- ſchloſſen habe, und ich urtheile daraus, ſie gehoͤre in der Gemeinde der Liebenden noch nicht zu den Jnſpirirten, ſondern zur Jn-
differen-
O 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0221"n="213"/>
uͤberall mit ihrem Herzpatron ſehr viel Aehn-<lb/>
lichkeit gehabt haben. Oder iſt ihr Herz<lb/>
noch <hirendition="#aq">res nullius</hi> die dem erſten Beſitzneh-<lb/>
mer anheim faͤllt, ſich bloß leidend verhaͤlt<lb/>
und alles ſich gefallen laͤßt? Oder ſollte<lb/>ſie wohl gar mein Abſehen vermerkt und ihr<lb/>
muthwilliges Spiel mit mir getrieben haben<lb/>
mich zu hetzen? Toll genug! — Aber<lb/>
wenn ich ihre Phyſiognomie betracht’, die<lb/>
offne Stirn, ihr unbefangnes Auge, aus<lb/>
dem keine Schalkheit hervorſieht, die Tink-<lb/>
tur von Beſcheidenheit und mackelloſer Un-<lb/>ſchuld im naifen Blick und in den Mienen:<lb/>ſo kan ich ihr weder die Verſchmiztheit noch<lb/>
den Muthwillen zutrauen, mich am Narren-<lb/>ſeil umfuͤhren zu wollen. Daß ſie allen<lb/>
Freyern gleichen Werth giebt iſt mir viel-<lb/>
mehr Beweiß, daß ſie keinen ins Herz ge-<lb/>ſchloſſen habe, und ich urtheile daraus, ſie<lb/>
gehoͤre in der Gemeinde der Liebenden noch<lb/>
nicht zu den Jnſpirirten, ſondern zur Jn-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">O 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">differen-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[213/0221]
uͤberall mit ihrem Herzpatron ſehr viel Aehn-
lichkeit gehabt haben. Oder iſt ihr Herz
noch res nullius die dem erſten Beſitzneh-
mer anheim faͤllt, ſich bloß leidend verhaͤlt
und alles ſich gefallen laͤßt? Oder ſollte
ſie wohl gar mein Abſehen vermerkt und ihr
muthwilliges Spiel mit mir getrieben haben
mich zu hetzen? Toll genug! — Aber
wenn ich ihre Phyſiognomie betracht’, die
offne Stirn, ihr unbefangnes Auge, aus
dem keine Schalkheit hervorſieht, die Tink-
tur von Beſcheidenheit und mackelloſer Un-
ſchuld im naifen Blick und in den Mienen:
ſo kan ich ihr weder die Verſchmiztheit noch
den Muthwillen zutrauen, mich am Narren-
ſeil umfuͤhren zu wollen. Daß ſie allen
Freyern gleichen Werth giebt iſt mir viel-
mehr Beweiß, daß ſie keinen ins Herz ge-
ſchloſſen habe, und ich urtheile daraus, ſie
gehoͤre in der Gemeinde der Liebenden noch
nicht zu den Jnſpirirten, ſondern zur Jn-
differen-
O 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/221>, abgerufen am 19.04.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.