die Töchter in der Kindheit zu vermählen. Darum schickte König Andreas von Ungarn, sein zartes Fräulein dem thüringer Ludwig ihrem Sponsum, in einer silbernen Wiege zu: denn er fürchtete, wenn sie einmal aus den Windeln geschlüpft sey, möchte sie sich selbst berathen, und da dürfts mit seinem Heurathsprojekt vorbey seyn. Gleichwohl scherzten die Engel bereits um die Wiege der heiligen Elisabeth, und ließen eher himm- lische als irdische Verliebtheit vermuthen. Hätten Sie Lottchen in der Wiege dem Vet- ter Anton zugeschickt, so fänd ich gegen die väterliche Eheberedung nichts einzuwenden. Aber iezt ists damit zu spät; eine Tochter von 18 Jahren läßt nicht so mit sich schal- ten, wie eine von 18 Wochen. Ungeachtet der sechs großen angebohrnen Sünden, die die gesezgebenden Braminen im Weibe fan- den, und welche fast alle Möglichkeit von Tugend ausschließen, halt ich Lottchen für
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die Toͤchter in der Kindheit zu vermaͤhlen. Darum ſchickte Koͤnig Andreas von Ungarn, ſein zartes Fraͤulein dem thuͤringer Ludwig ihrem Sponſum, in einer ſilbernen Wiege zu: denn er fuͤrchtete, wenn ſie einmal aus den Windeln geſchluͤpft ſey, moͤchte ſie ſich ſelbſt berathen, und da duͤrfts mit ſeinem Heurathsprojekt vorbey ſeyn. Gleichwohl ſcherzten die Engel bereits um die Wiege der heiligen Eliſabeth, und ließen eher himm- liſche als irdiſche Verliebtheit vermuthen. Haͤtten Sie Lottchen in der Wiege dem Vet- ter Anton zugeſchickt, ſo faͤnd ich gegen die vaͤterliche Eheberedung nichts einzuwenden. Aber iezt iſts damit zu ſpaͤt; eine Tochter von 18 Jahren laͤßt nicht ſo mit ſich ſchal- ten, wie eine von 18 Wochen. Ungeachtet der ſechs großen angebohrnen Suͤnden, die die geſezgebenden Braminen im Weibe fan- den, und welche faſt alle Moͤglichkeit von Tugend ausſchließen, halt ich Lottchen fuͤr
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die Toͤchter in der Kindheit zu vermaͤhlen.
Darum ſchickte Koͤnig Andreas von Ungarn,
ſein zartes Fraͤulein dem thuͤringer Ludwig
ihrem Sponſum, in einer ſilbernen Wiege
zu: denn er fuͤrchtete, wenn ſie einmal aus
den Windeln geſchluͤpft ſey, moͤchte ſie ſich
ſelbſt berathen, und da duͤrfts mit ſeinem
Heurathsprojekt vorbey ſeyn. Gleichwohl
ſcherzten die Engel bereits um die Wiege der
heiligen Eliſabeth, und ließen eher himm-
liſche als irdiſche Verliebtheit vermuthen.
Haͤtten Sie Lottchen in der Wiege dem Vet-
ter Anton zugeſchickt, ſo faͤnd ich gegen die
vaͤterliche Eheberedung nichts einzuwenden.
Aber iezt iſts damit zu ſpaͤt; eine Tochter
von 18 Jahren laͤßt nicht ſo mit ſich ſchal-
ten, wie eine von 18 Wochen. Ungeachtet
der ſechs großen angebohrnen Suͤnden, die
die geſezgebenden Braminen im Weibe fan-
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Tugend ausſchließen, halt ich Lottchen fuͤr
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/183>, abgerufen am 25.11.2024.
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