O Vater! O Mörder! rief ich in vollem Eifer aus, wollen Sie ihr frommes Kind hinschlachten, wie der Meister Mezger ein Milchlamm hinschlachtet, damit der erste be- ste Käuffer mit dem zarten Fleisch seinen ge- fräsigen Gaumen kützele? Wahrlich! von der Liebesöconomie der heutigen Welt sind Jhnen noch nicht die ersten Buchstaben be- kannt! Wie können Sie für das Herz einer vollbürtigen Tochter Bürge seyn, daß es noch nie den süßen Minnetrieb gefühlet ha- be? Wie, wenn Lottchen, auf deren Lip- pen ein gewisser Hauch von vorstrebender, entgegenschmachtender Empfindung schwebt, der väterlichen Disposition vorgegriffen und ihr Herz bereits veräussert hätte? Wie, wenn ein leidender Jüngling, einer der Edeln, die mit Hochgefühl, das ist, auf Leben und Tod lieben, nach ihr nicht uner- hört seufzete? Wollten Sie so gewissenloß seyn, das Heiligthum der ersten Liebe zu
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O Vater! O Moͤrder! rief ich in vollem Eifer aus, wollen Sie ihr frommes Kind hinſchlachten, wie der Meiſter Mezger ein Milchlamm hinſchlachtet, damit der erſte be- ſte Kaͤuffer mit dem zarten Fleiſch ſeinen ge- fraͤſigen Gaumen kuͤtzele? Wahrlich! von der Liebesoͤconomie der heutigen Welt ſind Jhnen noch nicht die erſten Buchſtaben be- kannt! Wie koͤnnen Sie fuͤr das Herz einer vollbuͤrtigen Tochter Buͤrge ſeyn, daß es noch nie den ſuͤßen Minnetrieb gefuͤhlet ha- be? Wie, wenn Lottchen, auf deren Lip- pen ein gewiſſer Hauch von vorſtrebender, entgegenſchmachtender Empfindung ſchwebt, der vaͤterlichen Diſpoſition vorgegriffen und ihr Herz bereits veraͤuſſert haͤtte? Wie, wenn ein leidender Juͤngling, einer der Edeln, die mit Hochgefuͤhl, das iſt, auf Leben und Tod lieben, nach ihr nicht uner- hoͤrt ſeufzete? Wollten Sie ſo gewiſſenloß ſeyn, das Heiligthum der erſten Liebe zu
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O Vater! O Moͤrder! rief ich in vollem
Eifer aus, wollen Sie ihr frommes Kind
hinſchlachten, wie der Meiſter Mezger ein
Milchlamm hinſchlachtet, damit der erſte be-
ſte Kaͤuffer mit dem zarten Fleiſch ſeinen ge-
fraͤſigen Gaumen kuͤtzele? Wahrlich! von
der Liebesoͤconomie der heutigen Welt ſind
Jhnen noch nicht die erſten Buchſtaben be-
kannt! Wie koͤnnen Sie fuͤr das Herz einer
vollbuͤrtigen Tochter Buͤrge ſeyn, daß es
noch nie den ſuͤßen Minnetrieb gefuͤhlet ha-
be? Wie, wenn Lottchen, auf deren Lip-
pen ein gewiſſer Hauch von vorſtrebender,
entgegenſchmachtender Empfindung ſchwebt,
der vaͤterlichen Diſpoſition vorgegriffen und
ihr Herz bereits veraͤuſſert haͤtte? Wie,
wenn ein leidender Juͤngling, einer der
Edeln, die mit Hochgefuͤhl, das iſt, auf
Leben und Tod lieben, nach ihr nicht uner-
hoͤrt ſeufzete? Wollten Sie ſo gewiſſenloß
ſeyn, das Heiligthum der erſten Liebe zu
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 4. Altenburg, 1779, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen04_1779/170>, abgerufen am 22.11.2024.
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