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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779.

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unter die Flügel genommen, und zur Aus-
geberin in seinem Hause gemacht habe.
Nachher, da ich zum Behuf bequemern Un-
terhalts, als Notist mich nach Manheim
begab, hab ich keine weitere Notiz von ihr
genommen. Eine Leichenpredigt aber, die
mir von ungefehr in die Hände fiel, belehr-
te mich, daß der erhabne Tugendfreund,
unter die vollendeten Gerechten sey versezt
worden. Daher vermuth ich, daß die Un-
glückliche, durch diesen Verlust mag seyn
veranlaßt worden, auf Abentheuer auszu-
gehen. Ewig Schade um das Weib! Jhr
Charakter war ehemals so rein und untadel-
haft, als ihre Physiognomie. Jhre Hand
bezeichnete Wohlanstelligkeit und Reinlich-
keit, ob sie gleich aus Mangel der Uebung
wenig Kunstfertigkeiten besaß. Davor war
ihr Geist vortreflich angebaut: sie hätte,
nur Grundsprache und Schrifterklärung aus-
genommen, in Absicht auf Gelehrsamkeit,

mit

unter die Fluͤgel genommen, und zur Aus-
geberin in ſeinem Hauſe gemacht habe.
Nachher, da ich zum Behuf bequemern Un-
terhalts, als Notiſt mich nach Manheim
begab, hab ich keine weitere Notiz von ihr
genommen. Eine Leichenpredigt aber, die
mir von ungefehr in die Haͤnde fiel, belehr-
te mich, daß der erhabne Tugendfreund,
unter die vollendeten Gerechten ſey verſezt
worden. Daher vermuth ich, daß die Un-
gluͤckliche, durch dieſen Verluſt mag ſeyn
veranlaßt worden, auf Abentheuer auszu-
gehen. Ewig Schade um das Weib! Jhr
Charakter war ehemals ſo rein und untadel-
haft, als ihre Phyſiognomie. Jhre Hand
bezeichnete Wohlanſtelligkeit und Reinlich-
keit, ob ſie gleich aus Mangel der Uebung
wenig Kunſtfertigkeiten beſaß. Davor war
ihr Geiſt vortreflich angebaut: ſie haͤtte,
nur Grundſprache und Schrifterklaͤrung aus-
genommen, in Abſicht auf Gelehrſamkeit,

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[64/0064] unter die Fluͤgel genommen, und zur Aus- geberin in ſeinem Hauſe gemacht habe. Nachher, da ich zum Behuf bequemern Un- terhalts, als Notiſt mich nach Manheim begab, hab ich keine weitere Notiz von ihr genommen. Eine Leichenpredigt aber, die mir von ungefehr in die Haͤnde fiel, belehr- te mich, daß der erhabne Tugendfreund, unter die vollendeten Gerechten ſey verſezt worden. Daher vermuth ich, daß die Un- gluͤckliche, durch dieſen Verluſt mag ſeyn veranlaßt worden, auf Abentheuer auszu- gehen. Ewig Schade um das Weib! Jhr Charakter war ehemals ſo rein und untadel- haft, als ihre Phyſiognomie. Jhre Hand bezeichnete Wohlanſtelligkeit und Reinlich- keit, ob ſie gleich aus Mangel der Uebung wenig Kunſtfertigkeiten beſaß. Davor war ihr Geiſt vortreflich angebaut: ſie haͤtte, nur Grundſprache und Schrifterklaͤrung aus- genommen, in Abſicht auf Gelehrſamkeit, mit

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen03_1779/64>, abgerufen am 18.05.2024.