unter die Flügel genommen, und zur Aus- geberin in seinem Hause gemacht habe. Nachher, da ich zum Behuf bequemern Un- terhalts, als Notist mich nach Manheim begab, hab ich keine weitere Notiz von ihr genommen. Eine Leichenpredigt aber, die mir von ungefehr in die Hände fiel, belehr- te mich, daß der erhabne Tugendfreund, unter die vollendeten Gerechten sey versezt worden. Daher vermuth ich, daß die Un- glückliche, durch diesen Verlust mag seyn veranlaßt worden, auf Abentheuer auszu- gehen. Ewig Schade um das Weib! Jhr Charakter war ehemals so rein und untadel- haft, als ihre Physiognomie. Jhre Hand bezeichnete Wohlanstelligkeit und Reinlich- keit, ob sie gleich aus Mangel der Uebung wenig Kunstfertigkeiten besaß. Davor war ihr Geist vortreflich angebaut: sie hätte, nur Grundsprache und Schrifterklärung aus- genommen, in Absicht auf Gelehrsamkeit,
mit
unter die Fluͤgel genommen, und zur Aus- geberin in ſeinem Hauſe gemacht habe. Nachher, da ich zum Behuf bequemern Un- terhalts, als Notiſt mich nach Manheim begab, hab ich keine weitere Notiz von ihr genommen. Eine Leichenpredigt aber, die mir von ungefehr in die Haͤnde fiel, belehr- te mich, daß der erhabne Tugendfreund, unter die vollendeten Gerechten ſey verſezt worden. Daher vermuth ich, daß die Un- gluͤckliche, durch dieſen Verluſt mag ſeyn veranlaßt worden, auf Abentheuer auszu- gehen. Ewig Schade um das Weib! Jhr Charakter war ehemals ſo rein und untadel- haft, als ihre Phyſiognomie. Jhre Hand bezeichnete Wohlanſtelligkeit und Reinlich- keit, ob ſie gleich aus Mangel der Uebung wenig Kunſtfertigkeiten beſaß. Davor war ihr Geiſt vortreflich angebaut: ſie haͤtte, nur Grundſprache und Schrifterklaͤrung aus- genommen, in Abſicht auf Gelehrſamkeit,
mit
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0064"n="64"/>
unter die Fluͤgel genommen, und zur Aus-<lb/>
geberin in ſeinem Hauſe gemacht habe.<lb/>
Nachher, da ich zum Behuf bequemern Un-<lb/>
terhalts, als Notiſt mich nach Manheim<lb/>
begab, hab ich keine weitere Notiz von ihr<lb/>
genommen. Eine Leichenpredigt aber, die<lb/>
mir von ungefehr in die Haͤnde fiel, belehr-<lb/>
te mich, daß der erhabne Tugendfreund,<lb/>
unter die vollendeten Gerechten ſey verſezt<lb/>
worden. Daher vermuth ich, daß die Un-<lb/>
gluͤckliche, durch dieſen Verluſt mag ſeyn<lb/>
veranlaßt worden, auf Abentheuer auszu-<lb/>
gehen. Ewig Schade um das Weib! Jhr<lb/>
Charakter war ehemals ſo rein und untadel-<lb/>
haft, als ihre Phyſiognomie. Jhre Hand<lb/>
bezeichnete Wohlanſtelligkeit und Reinlich-<lb/>
keit, ob ſie gleich aus Mangel der Uebung<lb/>
wenig Kunſtfertigkeiten beſaß. Davor war<lb/>
ihr Geiſt vortreflich angebaut: ſie haͤtte,<lb/>
nur Grundſprache und Schrifterklaͤrung aus-<lb/>
genommen, in Abſicht auf Gelehrſamkeit,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">mit</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[64/0064]
unter die Fluͤgel genommen, und zur Aus-
geberin in ſeinem Hauſe gemacht habe.
Nachher, da ich zum Behuf bequemern Un-
terhalts, als Notiſt mich nach Manheim
begab, hab ich keine weitere Notiz von ihr
genommen. Eine Leichenpredigt aber, die
mir von ungefehr in die Haͤnde fiel, belehr-
te mich, daß der erhabne Tugendfreund,
unter die vollendeten Gerechten ſey verſezt
worden. Daher vermuth ich, daß die Un-
gluͤckliche, durch dieſen Verluſt mag ſeyn
veranlaßt worden, auf Abentheuer auszu-
gehen. Ewig Schade um das Weib! Jhr
Charakter war ehemals ſo rein und untadel-
haft, als ihre Phyſiognomie. Jhre Hand
bezeichnete Wohlanſtelligkeit und Reinlich-
keit, ob ſie gleich aus Mangel der Uebung
wenig Kunſtfertigkeiten beſaß. Davor war
ihr Geiſt vortreflich angebaut: ſie haͤtte,
nur Grundſprache und Schrifterklaͤrung aus-
genommen, in Abſicht auf Gelehrſamkeit,
mit
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen03_1779/64>, abgerufen am 23.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.