"Bravo! rief ich aus, das freut mich; der weibliche Engel, der die Thür Jhres Kerkers aufthät, und sie der Banden ent- ledigte, empfing außer dem Gefühl der Se- ligkeit, das eine iede gute Handlung ge- währet, also auch noch zeitliche Belohnung! Nun waren wohl die trüben stürmischen Ta- ge bey Jhnen vorüber, und Jhr Kalender deutet' auf gute beständige Witterung?"
Allerdings! und der Erfolg bewieß, daß das anscheinende Glück auch nichts weiter als ein Kalenderadspekt war. Das blü- hende, gesunde, rosenwangichte Mädchen, wurde bald in der Ehe siech, welkte hin, wie eine Blume, an deren Wurzel ein Wurm im Verborgnen nagt. Wähnte in ihrer Unschuld, sie fühle die Unbequemlich- keiten, welche die Mutter aller Lebendigen auf ihre Töchter vererbt hat; ertrug die Schekereyen ihrer Gespielinnen so sanftdul- dend, als körperliche Leiden, und vermu-
thete
„Bravo! rief ich aus, das freut mich; der weibliche Engel, der die Thuͤr Jhres Kerkers aufthaͤt, und ſie der Banden ent- ledigte, empfing außer dem Gefuͤhl der Se- ligkeit, das eine iede gute Handlung ge- waͤhret, alſo auch noch zeitliche Belohnung! Nun waren wohl die truͤben ſtuͤrmiſchen Ta- ge bey Jhnen voruͤber, und Jhr Kalender deutet’ auf gute beſtaͤndige Witterung?“
Allerdings! und der Erfolg bewieß, daß das anſcheinende Gluͤck auch nichts weiter als ein Kalenderadſpekt war. Das bluͤ- hende, geſunde, roſenwangichte Maͤdchen, wurde bald in der Ehe ſiech, welkte hin, wie eine Blume, an deren Wurzel ein Wurm im Verborgnen nagt. Waͤhnte in ihrer Unſchuld, ſie fuͤhle die Unbequemlich- keiten, welche die Mutter aller Lebendigen auf ihre Toͤchter vererbt hat; ertrug die Schekereyen ihrer Geſpielinnen ſo ſanftdul- dend, als koͤrperliche Leiden, und vermu-
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„Bravo! rief ich aus, das freut mich;
der weibliche Engel, der die Thuͤr Jhres
Kerkers aufthaͤt, und ſie der Banden ent-
ledigte, empfing außer dem Gefuͤhl der Se-
ligkeit, das eine iede gute Handlung ge-
waͤhret, alſo auch noch zeitliche Belohnung!
Nun waren wohl die truͤben ſtuͤrmiſchen Ta-
ge bey Jhnen voruͤber, und Jhr Kalender
deutet’ auf gute beſtaͤndige Witterung?“
Allerdings! und der Erfolg bewieß, daß
das anſcheinende Gluͤck auch nichts weiter
als ein Kalenderadſpekt war. Das bluͤ-
hende, geſunde, roſenwangichte Maͤdchen,
wurde bald in der Ehe ſiech, welkte hin,
wie eine Blume, an deren Wurzel ein
Wurm im Verborgnen nagt. Waͤhnte in
ihrer Unſchuld, ſie fuͤhle die Unbequemlich-
keiten, welche die Mutter aller Lebendigen
auf ihre Toͤchter vererbt hat; ertrug die
Schekereyen ihrer Geſpielinnen ſo ſanftdul-
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 3. Altenburg, 1779, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen03_1779/38>, abgerufen am 16.07.2024.
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