ich, ein Kopf, worinn Genie wohnt, aussieht wie ein mißgestalteter Schuster- kopf, wie kann ich einem nach physio- gnomischen Regeln abmerken, ob er sei- nem äussern Beruf nach ein Genie oder ein Schuster sey? Aber da wehet' mich, weil ich eben in Leipzig war, vermuthlich von dem Grabhügel meines ehemaligen Lehrers des selgen Crusius, ein philosophisches Lüft- lein an, das mir wohl zu Statten kam; fiel mir bey das principium indiscernibilium, an das ich in Wahrheit seit zwanzig und mehr Jahren nicht gedacht hatte. Dadurch wurd ich belehrt, daß bey der anscheinen- den Aehnlichkeit zweyer Ding', so groß sie auch sey, dennoch Merkmaale gnug übrig bleiben, dadurch sie sich von einander un- terscheiden, nur muß der Beobachter kein Dreyschrittseher seyn, sondern Auge gnug haben, den Unterschied zu bemerken, folg- lich wird ein geübter Physiognomist den sim-
peln
ich, ein Kopf, worinn Genie wohnt, ausſieht wie ein mißgeſtalteter Schuſter- kopf, wie kann ich einem nach phyſio- gnomiſchen Regeln abmerken, ob er ſei- nem aͤuſſern Beruf nach ein Genie oder ein Schuſter ſey? Aber da wehet’ mich, weil ich eben in Leipzig war, vermuthlich von dem Grabhuͤgel meines ehemaligen Lehrers des ſelgen Cruſius, ein philoſophiſches Luͤft- lein an, das mir wohl zu Statten kam; fiel mir bey das principium indiſcernibilium, an das ich in Wahrheit ſeit zwanzig und mehr Jahren nicht gedacht hatte. Dadurch wurd ich belehrt, daß bey der anſcheinen- den Aehnlichkeit zweyer Ding’, ſo groß ſie auch ſey, dennoch Merkmaale gnug uͤbrig bleiben, dadurch ſie ſich von einander un- terſcheiden, nur muß der Beobachter kein Dreyſchrittſeher ſeyn, ſondern Auge gnug haben, den Unterſchied zu bemerken, folg- lich wird ein geuͤbter Phyſiognomiſt den ſim-
peln
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0044"n="44"/>
ich, ein Kopf, worinn Genie wohnt,<lb/>
ausſieht wie ein mißgeſtalteter Schuſter-<lb/>
kopf, wie kann ich einem nach phyſio-<lb/>
gnomiſchen Regeln abmerken, ob er ſei-<lb/>
nem aͤuſſern Beruf nach ein Genie oder ein<lb/>
Schuſter ſey? Aber da wehet’ mich, weil<lb/>
ich eben in Leipzig war, vermuthlich von<lb/>
dem Grabhuͤgel meines ehemaligen Lehrers<lb/>
des ſelgen Cruſius, ein philoſophiſches Luͤft-<lb/>
lein an, das mir wohl zu Statten kam; fiel<lb/>
mir bey das <hirendition="#aq">principium indiſcernibilium,</hi><lb/>
an das ich in Wahrheit ſeit zwanzig und<lb/>
mehr Jahren nicht gedacht hatte. Dadurch<lb/>
wurd ich belehrt, daß bey der anſcheinen-<lb/>
den Aehnlichkeit zweyer Ding’, ſo groß ſie<lb/>
auch ſey, dennoch Merkmaale gnug uͤbrig<lb/>
bleiben, dadurch ſie ſich von einander un-<lb/>
terſcheiden, nur muß der Beobachter kein<lb/>
Dreyſchrittſeher ſeyn, ſondern Auge gnug<lb/>
haben, den Unterſchied zu bemerken, folg-<lb/>
lich wird ein geuͤbter Phyſiognomiſt den ſim-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">peln</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[44/0044]
ich, ein Kopf, worinn Genie wohnt,
ausſieht wie ein mißgeſtalteter Schuſter-
kopf, wie kann ich einem nach phyſio-
gnomiſchen Regeln abmerken, ob er ſei-
nem aͤuſſern Beruf nach ein Genie oder ein
Schuſter ſey? Aber da wehet’ mich, weil
ich eben in Leipzig war, vermuthlich von
dem Grabhuͤgel meines ehemaligen Lehrers
des ſelgen Cruſius, ein philoſophiſches Luͤft-
lein an, das mir wohl zu Statten kam; fiel
mir bey das principium indiſcernibilium,
an das ich in Wahrheit ſeit zwanzig und
mehr Jahren nicht gedacht hatte. Dadurch
wurd ich belehrt, daß bey der anſcheinen-
den Aehnlichkeit zweyer Ding’, ſo groß ſie
auch ſey, dennoch Merkmaale gnug uͤbrig
bleiben, dadurch ſie ſich von einander un-
terſcheiden, nur muß der Beobachter kein
Dreyſchrittſeher ſeyn, ſondern Auge gnug
haben, den Unterſchied zu bemerken, folg-
lich wird ein geuͤbter Phyſiognomiſt den ſim-
peln
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 2. Altenburg, 1778, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen02_1778/44>, abgerufen am 03.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.