Biedermann, der lieber zehn ehrlich macht als einen zum Schelm, und iezt wünschtest du das Gegentheil? Herz wie hälts? Wenn du im Stand' bist, einen rechtschaffenen Kerl einer Hypothese aufzuopfern; so ist die dem Götzen Moloch zu vergleichen, der die unschuldigen Kindlein frißt, und du bist nicht werth in dieser Brust zu schlagen. Zwar wär's nichts neues, daß eine Hypo- these 'n ehrlichen Kerl verschlungen hätt', wie ehemals der Lindwurm den Postboten, bis auf die Brieftasch. Wie viel Menschen sind um einer Hypothese willen, die sie glau- ben sollten und nicht wollten, oder glauben wollten und nicht sollten, gestäupt, ge- brandmarkt, geköpft, gehangen, gevier- theilt, und Gott weiß was sonst noch wor- den! Wär der Unterschied nicht groß, wenn zu dieser ganzen Summ' noch eine Einheit hinzu käm'; aber Gott soll mich bewahren, daß ich ein solcher hypothetischer Schlächter würd', wie ich doch bald unvorsäzlicher Weis' worden wär. Heut zu Tage sind zwar dieser Hyäne die Zähn' ziemlich ausge- brochen, daß sie nicht leicht würgen und verschlingen kan; doch kneipen und um sich beißen kan sie noch immer. Das hat er-
fahren
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Biedermann, der lieber zehn ehrlich macht als einen zum Schelm, und iezt wuͤnſchteſt du das Gegentheil? Herz wie haͤlts? Wenn du im Stand’ biſt, einen rechtſchaffenen Kerl einer Hypotheſe aufzuopfern; ſo iſt die dem Goͤtzen Moloch zu vergleichen, der die unſchuldigen Kindlein frißt, und du biſt nicht werth in dieſer Bruſt zu ſchlagen. Zwar waͤr’s nichts neues, daß eine Hypo- theſe ’n ehrlichen Kerl verſchlungen haͤtt’, wie ehemals der Lindwurm den Poſtboten, bis auf die Brieftaſch. Wie viel Menſchen ſind um einer Hypotheſe willen, die ſie glau- ben ſollten und nicht wollten, oder glauben wollten und nicht ſollten, geſtaͤupt, ge- brandmarkt, gekoͤpft, gehangen, gevier- theilt, und Gott weiß was ſonſt noch wor- den! Waͤr der Unterſchied nicht groß, wenn zu dieſer ganzen Summ’ noch eine Einheit hinzu kaͤm’; aber Gott ſoll mich bewahren, daß ich ein ſolcher hypothetiſcher Schlaͤchter wuͤrd’, wie ich doch bald unvorſaͤzlicher Weiſ’ worden waͤr. Heut zu Tage ſind zwar dieſer Hyaͤne die Zaͤhn’ ziemlich ausge- brochen, daß ſie nicht leicht wuͤrgen und verſchlingen kan; doch kneipen und um ſich beißen kan ſie noch immer. Das hat er-
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Biedermann, der lieber zehn ehrlich macht
als einen zum Schelm, und iezt wuͤnſchteſt
du das Gegentheil? Herz wie haͤlts? Wenn
du im Stand’ biſt, einen rechtſchaffenen
Kerl einer Hypotheſe aufzuopfern; ſo iſt
die dem Goͤtzen Moloch zu vergleichen, der
die unſchuldigen Kindlein frißt, und du biſt
nicht werth in dieſer Bruſt zu ſchlagen.
Zwar waͤr’s nichts neues, daß eine Hypo-
theſe ’n ehrlichen Kerl verſchlungen haͤtt’,
wie ehemals der Lindwurm den Poſtboten,
bis auf die Brieftaſch. Wie viel Menſchen
ſind um einer Hypotheſe willen, die ſie glau-
ben ſollten und nicht wollten, oder glauben
wollten und nicht ſollten, geſtaͤupt, ge-
brandmarkt, gekoͤpft, gehangen, gevier-
theilt, und Gott weiß was ſonſt noch wor-
den! Waͤr der Unterſchied nicht groß, wenn
zu dieſer ganzen Summ’ noch eine Einheit
hinzu kaͤm’; aber Gott ſoll mich bewahren,
daß ich ein ſolcher hypothetiſcher Schlaͤchter
wuͤrd’, wie ich doch bald unvorſaͤzlicher
Weiſ’ worden waͤr. Heut zu Tage ſind
zwar dieſer Hyaͤne die Zaͤhn’ ziemlich ausge-
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/189>, abgerufen am 16.02.2025.
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