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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779.

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Windstoß gar entzwey, oder stirbt von sich
selbst ab. Wenn nun einer meiner Leut'
käm und spräch: Herr, der Bimbaum im
Feld hat 'n dürren Ast, laßt dem Baum
umsägen, er taugt nicht mehr, zu dem
spräch ich: Narr säg den Ast ab, und
nicht den Baum um; der Ast taugt nim-
mer, aber der Baum ist noch gut und
nutzbar. So Freund ists gerad' mit dem
Litteraturwesen, dieser oder iener Zweig der
Gelehrsamkeit, der ehemals herrliche Früch-
te getragen, stirbt nach und nach ab und
verdorret; Aber das schad't dem Ganzen
nicht, die andern Aest' treiben desto lusti-
ger, ziehen die Säft', die ihnen ihr ver-
trockneter Konsort entzog in sich, und brin-
gen mehr Frücht' als zuvor. Dieser ver-
dorbene Zweig ist die Schulgelehrsamkeit,
damit ist's freilich aus, und das ist für
euch Herren ein' harte Nuß, schier eben
so schlimm, als für die Planetenbewoh-
ner eines Sonnensystems, wenn ihr Fir-
stern verlischt, mögen die dann auch wohl
denken, der ganze Weltbau zerfall; aber
das hat keine Gefahr, der steht fest ge-
nug.

M.

Windſtoß gar entzwey, oder ſtirbt von ſich
ſelbſt ab. Wenn nun einer meiner Leut’
kaͤm und ſpraͤch: Herr, der Bimbaum im
Feld hat ’n duͤrren Aſt, laßt dem Baum
umſaͤgen, er taugt nicht mehr, zu dem
ſpraͤch ich: Narr ſaͤg den Aſt ab, und
nicht den Baum um; der Aſt taugt nim-
mer, aber der Baum iſt noch gut und
nutzbar. So Freund iſts gerad’ mit dem
Litteraturweſen, dieſer oder iener Zweig der
Gelehrſamkeit, der ehemals herrliche Fruͤch-
te getragen, ſtirbt nach und nach ab und
verdorret; Aber das ſchad’t dem Ganzen
nicht, die andern Aeſt’ treiben deſto luſti-
ger, ziehen die Saͤft’, die ihnen ihr ver-
trockneter Konſort entzog in ſich, und brin-
gen mehr Fruͤcht’ als zuvor. Dieſer ver-
dorbene Zweig iſt die Schulgelehrſamkeit,
damit iſt’s freilich aus, und das iſt fuͤr
euch Herren ein’ harte Nuß, ſchier eben
ſo ſchlimm, als fuͤr die Planetenbewoh-
ner eines Sonnenſyſtems, wenn ihr Fir-
ſtern verliſcht, moͤgen die dann auch wohl
denken, der ganze Weltbau zerfall; aber
das hat keine Gefahr, der ſteht feſt ge-
nug.

M.
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[168/0174] Windſtoß gar entzwey, oder ſtirbt von ſich ſelbſt ab. Wenn nun einer meiner Leut’ kaͤm und ſpraͤch: Herr, der Bimbaum im Feld hat ’n duͤrren Aſt, laßt dem Baum umſaͤgen, er taugt nicht mehr, zu dem ſpraͤch ich: Narr ſaͤg den Aſt ab, und nicht den Baum um; der Aſt taugt nim- mer, aber der Baum iſt noch gut und nutzbar. So Freund iſts gerad’ mit dem Litteraturweſen, dieſer oder iener Zweig der Gelehrſamkeit, der ehemals herrliche Fruͤch- te getragen, ſtirbt nach und nach ab und verdorret; Aber das ſchad’t dem Ganzen nicht, die andern Aeſt’ treiben deſto luſti- ger, ziehen die Saͤft’, die ihnen ihr ver- trockneter Konſort entzog in ſich, und brin- gen mehr Fruͤcht’ als zuvor. Dieſer ver- dorbene Zweig iſt die Schulgelehrſamkeit, damit iſt’s freilich aus, und das iſt fuͤr euch Herren ein’ harte Nuß, ſchier eben ſo ſchlimm, als fuͤr die Planetenbewoh- ner eines Sonnenſyſtems, wenn ihr Fir- ſtern verliſcht, moͤgen die dann auch wohl denken, der ganze Weltbau zerfall; aber das hat keine Gefahr, der ſteht feſt ge- nug. M.

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Zitationshilfe: Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/174>, abgerufen am 21.11.2024.