tasie oder die Willkühr der Skribenten ihr einziges höchstes Gesez ist: so urtheilen sie selbst, ob nicht Unordnung und Verwir- rung daraus entstehen müsse; ob nicht bey dieser Zügellosigkeit, das gesittete Gebie- the der Gelehrsamkeit von einer ungeheuren Schaar barbarischer Produkte, wie ehe- mals das Römische von barbarischen Völ- kern überschwemmt, eben so wie ienes Reich zerfallen und in Barbarey ausarten müsse.
Herr Sie überschauen, dünkt mich, den Zustand des vaterländischen Litteraturwe- sens aus einem zu eingeschränkten Gesichts- punkt, und sehen einen einzelnen Ast für den ganzen Baum an. Schau der Herr den wilden Birnbaum, unter dessen Schat- ten uns wohl ist. Was für ein gesunder fester Stamm! Was für herrliche weit ausgebreitete Aeste! die immer neue Zweig' treiben, welche die Fruchtbarkeit des Stam- mes iährlich mit unzählbaren Früchten be- lastet. Jm Ganzen geben diese reichlich alle Sommer zwey Eimer Most; aber nicht ieder Ast giebt Früchte, viele treiben nichts als Blätter; knikt auch wohl mancher, der vorher lustig anzusehen war, durch einen
Wind-
L 4
taſie oder die Willkuͤhr der Skribenten ihr einziges hoͤchſtes Geſez iſt: ſo urtheilen ſie ſelbſt, ob nicht Unordnung und Verwir- rung daraus entſtehen muͤſſe; ob nicht bey dieſer Zuͤgelloſigkeit, das geſittete Gebie- the der Gelehrſamkeit von einer ungeheuren Schaar barbariſcher Produkte, wie ehe- mals das Roͤmiſche von barbariſchen Voͤl- kern uͤberſchwemmt, eben ſo wie ienes Reich zerfallen und in Barbarey ausarten muͤſſe.
Herr Sie uͤberſchauen, duͤnkt mich, den Zuſtand des vaterlaͤndiſchen Litteraturwe- ſens aus einem zu eingeſchraͤnkten Geſichts- punkt, und ſehen einen einzelnen Aſt fuͤr den ganzen Baum an. Schau der Herr den wilden Birnbaum, unter deſſen Schat- ten uns wohl iſt. Was fuͤr ein geſunder feſter Stamm! Was fuͤr herrliche weit ausgebreitete Aeſte! die immer neue Zweig’ treiben, welche die Fruchtbarkeit des Stam- mes iaͤhrlich mit unzaͤhlbaren Fruͤchten be- laſtet. Jm Ganzen geben dieſe reichlich alle Sommer zwey Eimer Moſt; aber nicht ieder Aſt giebt Fruͤchte, viele treiben nichts als Blaͤtter; knikt auch wohl mancher, der vorher luſtig anzuſehen war, durch einen
Wind-
L 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0173"n="167"/>
taſie oder die Willkuͤhr der Skribenten ihr<lb/>
einziges hoͤchſtes Geſez iſt: ſo urtheilen ſie<lb/>ſelbſt, ob nicht Unordnung und Verwir-<lb/>
rung daraus entſtehen muͤſſe; ob nicht bey<lb/>
dieſer Zuͤgelloſigkeit, das geſittete Gebie-<lb/>
the der Gelehrſamkeit von einer ungeheuren<lb/>
Schaar barbariſcher Produkte, wie ehe-<lb/>
mals das Roͤmiſche von barbariſchen Voͤl-<lb/>
kern uͤberſchwemmt, eben ſo wie ienes<lb/>
Reich zerfallen und in Barbarey ausarten<lb/>
muͤſſe.</p><lb/><p>Herr Sie uͤberſchauen, duͤnkt mich, den<lb/>
Zuſtand des vaterlaͤndiſchen Litteraturwe-<lb/>ſens aus einem zu eingeſchraͤnkten Geſichts-<lb/>
punkt, und ſehen einen einzelnen Aſt fuͤr<lb/>
den ganzen Baum an. Schau der Herr<lb/>
den wilden Birnbaum, unter deſſen Schat-<lb/>
ten uns wohl iſt. Was fuͤr ein geſunder<lb/>
feſter Stamm! Was fuͤr herrliche weit<lb/>
ausgebreitete Aeſte! die immer neue Zweig’<lb/>
treiben, welche die Fruchtbarkeit des Stam-<lb/>
mes iaͤhrlich mit unzaͤhlbaren Fruͤchten be-<lb/>
laſtet. Jm Ganzen geben dieſe reichlich<lb/>
alle Sommer zwey Eimer Moſt; aber nicht<lb/>
ieder Aſt giebt Fruͤchte, viele treiben nichts<lb/>
als Blaͤtter; knikt auch wohl mancher, der<lb/>
vorher luſtig anzuſehen war, durch einen<lb/><fwplace="bottom"type="sig">L 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">Wind-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[167/0173]
taſie oder die Willkuͤhr der Skribenten ihr
einziges hoͤchſtes Geſez iſt: ſo urtheilen ſie
ſelbſt, ob nicht Unordnung und Verwir-
rung daraus entſtehen muͤſſe; ob nicht bey
dieſer Zuͤgelloſigkeit, das geſittete Gebie-
the der Gelehrſamkeit von einer ungeheuren
Schaar barbariſcher Produkte, wie ehe-
mals das Roͤmiſche von barbariſchen Voͤl-
kern uͤberſchwemmt, eben ſo wie ienes
Reich zerfallen und in Barbarey ausarten
muͤſſe.
Herr Sie uͤberſchauen, duͤnkt mich, den
Zuſtand des vaterlaͤndiſchen Litteraturwe-
ſens aus einem zu eingeſchraͤnkten Geſichts-
punkt, und ſehen einen einzelnen Aſt fuͤr
den ganzen Baum an. Schau der Herr
den wilden Birnbaum, unter deſſen Schat-
ten uns wohl iſt. Was fuͤr ein geſunder
feſter Stamm! Was fuͤr herrliche weit
ausgebreitete Aeſte! die immer neue Zweig’
treiben, welche die Fruchtbarkeit des Stam-
mes iaͤhrlich mit unzaͤhlbaren Fruͤchten be-
laſtet. Jm Ganzen geben dieſe reichlich
alle Sommer zwey Eimer Moſt; aber nicht
ieder Aſt giebt Fruͤchte, viele treiben nichts
als Blaͤtter; knikt auch wohl mancher, der
vorher luſtig anzuſehen war, durch einen
Wind-
L 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/173>, abgerufen am 08.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.