sonanz, Diskrepanz, Flecken, Mängel und Gebrechen. Hab' mir das Theoremgen aus eigner Erfahrung zugespitzt, und befind', daß es auf Physiognomik angewendet, so viel werth ist als irgend eins, worüber sein Erfinder das eureka laut über die Straßen posaunet hat.
Nun ist mir Sonnenklar, warum zu so vielen Leuten, unter andern auch zu den Göttinger Recensenten, die Gesichter in den Fragmenten sehr oft ganz was anders sa- gen, als was L. gesehen hat: nämlich die Herren sind, beym Beschauen derselben, nicht in der Lavaterschen Stimmung gewe- sen, und da verrückt sich der Gesichtspunkt unvermerkt, daß wie iedermann seinen eig- nen Regenbogen, oder nach P. Hells Mey- nung auch sein eigen Nordlicht sieht mit leiblichen Augen; so beschaut auch ieder Physiognom, aus seinem eignen Stand- punkt, des Menschenantlitz mit den Augen des Verstandes, und dieser Standpunkt verrückt sich, so oft die Stimmung der Seele sich verändert.
Kan mir auch nun ein Problem des Herzguten L. gar anschaulich erklären, das mir vorher unauflößbar war. Spricht der-
selb'
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ſonanz, Diſkrepanz, Flecken, Maͤngel und Gebrechen. Hab’ mir das Theoremgen aus eigner Erfahrung zugeſpitzt, und befind’, daß es auf Phyſiognomik angewendet, ſo viel werth iſt als irgend eins, woruͤber ſein Erfinder das ευρηκα laut uͤber die Straßen poſaunet hat.
Nun iſt mir Sonnenklar, warum zu ſo vielen Leuten, unter andern auch zu den Goͤttinger Recenſenten, die Geſichter in den Fragmenten ſehr oft ganz was anders ſa- gen, als was L. geſehen hat: naͤmlich die Herren ſind, beym Beſchauen derſelben, nicht in der Lavaterſchen Stimmung gewe- ſen, und da verruͤckt ſich der Geſichtspunkt unvermerkt, daß wie iedermann ſeinen eig- nen Regenbogen, oder nach P. Hells Mey- nung auch ſein eigen Nordlicht ſieht mit leiblichen Augen; ſo beſchaut auch ieder Phyſiognom, aus ſeinem eignen Stand- punkt, des Menſchenantlitz mit den Augen des Verſtandes, und dieſer Standpunkt verruͤckt ſich, ſo oft die Stimmung der Seele ſich veraͤndert.
Kan mir auch nun ein Problem des Herzguten L. gar anſchaulich erklaͤren, das mir vorher unaufloͤßbar war. Spricht der-
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ſonanz, Diſkrepanz, Flecken, Maͤngel und
Gebrechen. Hab’ mir das Theoremgen aus
eigner Erfahrung zugeſpitzt, und befind’,
daß es auf Phyſiognomik angewendet, ſo
viel werth iſt als irgend eins, woruͤber ſein
Erfinder das ευρηκα laut uͤber die Straßen
poſaunet hat.
Nun iſt mir Sonnenklar, warum zu ſo
vielen Leuten, unter andern auch zu den
Goͤttinger Recenſenten, die Geſichter in den
Fragmenten ſehr oft ganz was anders ſa-
gen, als was L. geſehen hat: naͤmlich die
Herren ſind, beym Beſchauen derſelben,
nicht in der Lavaterſchen Stimmung gewe-
ſen, und da verruͤckt ſich der Geſichtspunkt
unvermerkt, daß wie iedermann ſeinen eig-
nen Regenbogen, oder nach P. Hells Mey-
nung auch ſein eigen Nordlicht ſieht mit
leiblichen Augen; ſo beſchaut auch ieder
Phyſiognom, aus ſeinem eignen Stand-
punkt, des Menſchenantlitz mit den Augen
des Verſtandes, und dieſer Standpunkt
verruͤckt ſich, ſo oft die Stimmung der
Seele ſich veraͤndert.
Kan mir auch nun ein Problem des
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/127>, abgerufen am 08.07.2024.
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