kommenheit, die auch den ideal angelegten Menschen innerlich zu befriedigen im stande ist. Sie darf aber auch die letzte Konsequenz des Realismus genannt werden in- sofern, als sie in übertriebener Neigung zur Karikatur die häßliche Schattenseite zeigt, zu welcher die nicht ideal befruchtete Kunst schließlich hinabsinkt.
Wir können unsere Betrachtungen über das japa- nische Geistesleben nicht schließen, ohne wenigstens in Kürze auf das Erziehungswesen der Vergangenheit und der Gegenwart einzugehen.
Seitdem in vorgeschichtlicher Zeit die Japaner mit der chinesischen Schrift bekannt geworden sind, insbesondere aber, seitdem der Koreaner Wani um das Jahr 400 n. C. ein eingehenderes Studium der chinesischen Klassiker an- geregt hatte, ist die hohe Wertschätzung des Wissens nicht wieder ausgestorben, und Konfuzius und Buddha waren gleicherweise bemüht, dieselbe lebendig zu erhalten. Seit einem Jahrtausend hat es der Jüngling im Unterrichte lernen müssen: "Scharre tausend Stücke Goldes zu- sammen, sie sind nicht so viel wert als ein Tag Lernens"; "Schätze, die man im Schreine sammelt, gehen zu Grunde; aber Schätze, die man im Kopfe sammelt, verfallen nicht".
Der Gang der Geistesbildung war in Japan der- selbe wie überall: von oben nach unten -- verschieden von dem Gang der Religion. Jesus von Nazareth war ein Mann aus dem Volke, und die Religion, ebenso wie die Gefühlslyrik der Poesie, ist in der Seele des Volkes, in dem Herzen der Menschheit geboren. Und wie das Herz den Mittelpunkt des Körpers bildet, so ist die Religion der Mittelpunkt des Volkslebens. Die Geistesbildung aber kommt von oben; sie entspringt aus dem Kopf, der den obersten Teil des Körpers ausmacht, und die Geschichte zeigt, daß sie allmählich von oben
kommenheit, die auch den ideal angelegten Menſchen innerlich zu befriedigen im ſtande iſt. Sie darf aber auch die letzte Konſequenz des Realismus genannt werden in- ſofern, als ſie in übertriebener Neigung zur Karikatur die häßliche Schattenſeite zeigt, zu welcher die nicht ideal befruchtete Kunſt ſchließlich hinabſinkt.
Wir können unſere Betrachtungen über das japa- niſche Geiſtesleben nicht ſchließen, ohne wenigſtens in Kürze auf das Erziehungsweſen der Vergangenheit und der Gegenwart einzugehen.
Seitdem in vorgeſchichtlicher Zeit die Japaner mit der chineſiſchen Schrift bekannt geworden ſind, insbeſondere aber, ſeitdem der Koreaner Wani um das Jahr 400 n. C. ein eingehenderes Studium der chineſiſchen Klaſſiker an- geregt hatte, iſt die hohe Wertſchätzung des Wiſſens nicht wieder ausgeſtorben, und Konfuzius und Buddha waren gleicherweiſe bemüht, dieſelbe lebendig zu erhalten. Seit einem Jahrtauſend hat es der Jüngling im Unterrichte lernen müſſen: „Scharre tauſend Stücke Goldes zu- ſammen, ſie ſind nicht ſo viel wert als ein Tag Lernens“; „Schätze, die man im Schreine ſammelt, gehen zu Grunde; aber Schätze, die man im Kopfe ſammelt, verfallen nicht“.
Der Gang der Geiſtesbildung war in Japan der- ſelbe wie überall: von oben nach unten — verſchieden von dem Gang der Religion. Jeſus von Nazareth war ein Mann aus dem Volke, und die Religion, ebenſo wie die Gefühlslyrik der Poeſie, iſt in der Seele des Volkes, in dem Herzen der Menſchheit geboren. Und wie das Herz den Mittelpunkt des Körpers bildet, ſo iſt die Religion der Mittelpunkt des Volkslebens. Die Geiſtesbildung aber kommt von oben; ſie entſpringt aus dem Kopf, der den oberſten Teil des Körpers ausmacht, und die Geſchichte zeigt, daß ſie allmählich von oben
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kommenheit, die auch den ideal angelegten Menſchen
innerlich zu befriedigen im ſtande iſt. Sie darf aber auch
die letzte Konſequenz des Realismus genannt werden in-
ſofern, als ſie in übertriebener Neigung zur Karikatur
die häßliche Schattenſeite zeigt, zu welcher die nicht ideal
befruchtete Kunſt ſchließlich hinabſinkt.
Wir können unſere Betrachtungen über das japa-
niſche Geiſtesleben nicht ſchließen, ohne wenigſtens in
Kürze auf das Erziehungsweſen der Vergangenheit und
der Gegenwart einzugehen.
Seitdem in vorgeſchichtlicher Zeit die Japaner mit
der chineſiſchen Schrift bekannt geworden ſind, insbeſondere
aber, ſeitdem der Koreaner Wani um das Jahr 400 n. C.
ein eingehenderes Studium der chineſiſchen Klaſſiker an-
geregt hatte, iſt die hohe Wertſchätzung des Wiſſens nicht
wieder ausgeſtorben, und Konfuzius und Buddha waren
gleicherweiſe bemüht, dieſelbe lebendig zu erhalten. Seit
einem Jahrtauſend hat es der Jüngling im Unterrichte
lernen müſſen: „Scharre tauſend Stücke Goldes zu-
ſammen, ſie ſind nicht ſo viel wert als ein Tag Lernens“;
„Schätze, die man im Schreine ſammelt, gehen zu Grunde;
aber Schätze, die man im Kopfe ſammelt, verfallen nicht“.
Der Gang der Geiſtesbildung war in Japan der-
ſelbe wie überall: von oben nach unten — verſchieden
von dem Gang der Religion. Jeſus von Nazareth war
ein Mann aus dem Volke, und die Religion, ebenſo
wie die Gefühlslyrik der Poeſie, iſt in der Seele des
Volkes, in dem Herzen der Menſchheit geboren. Und
wie das Herz den Mittelpunkt des Körpers bildet, ſo
iſt die Religion der Mittelpunkt des Volkslebens. Die
Geiſtesbildung aber kommt von oben; ſie entſpringt aus
dem Kopf, der den oberſten Teil des Körpers ausmacht,
und die Geſchichte zeigt, daß ſie allmählich von oben
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/98>, abgerufen am 24.11.2024.
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