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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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den Sinn für das Schöne, ja für die heiteren Seiten
des Lebens überhaupt in die Wiege gelegt. Er liebt
schöne Formen und giebt sich mit Gefühl an dieselben
hin. Er hat ein ausgesprochenes Verständnis für die
Schönheiten seiner wunderbaren Natur. Wenn im
Februar die Pflaumen und anfangs April die Kirschen
blühen, wenn Ende Oktober die Knospen der Astern sich
erschließen und ihre schmalen Blätter sonnenstrahlenförmig
entfalten; wenn im November das Laub des Ahorns vor
dem Sterben sich blutig rot färbt wie der Abendhimmel,
wenn die Sonne hinabsinkt; wenn im Winter die Erde
in ihr weißes Schneekleid sich hüllt, was allerdings selten
genug vorkommt: dann strömt jung und alt hinaus,
um sich des schönen Anblicks zu freuen. Die beiden
großen Gesellschaften, welche der Kaiser alljährlich zu
geben pflegt, und zu denen der Adel, die hohe Beamten-
schaft und die Elite der europäischen Gesellschaft ein-
geladen werden, finden bezeichnender Weise in den kaiser-
lichen Gärten statt und zwar zur Zeit der Kirsch- und
der Chrysanthemumblüte. Gern verweilen sie eine Stunde
oder zwei angesichts eines sprühenden Wasserfalls und
die Zweige einer Fichte, regungslos über die stillen Fluten
eines dunkeln Sees gebeugt, erfüllen sie mit Entzücken.
In der Dämmerung des Abends gehen sie hin nach einem
lauschigen Plätzchen, um dem Gesang der unguisu, der
Nachtigall, zu lauschen, und beim Grauen des Tages,
wenn der hototogisu, der Kuckuck, seinen eintönig melan-
cholischen Ruf hören läßt, zieht es sie hinaus nach dem
Wald. Jeder Japaner kennt die Schönheiten seines
Landes, und wer Zeit und Geld hat, scheut auch die
weiteste Reise nicht, sie zu genießen. Es giebt Psycho-
logen, welche die Liebe zu der Natur als die höchste
Entwicklung des Geistes bezeichnen, und wenn man sieht,

den Sinn für das Schöne, ja für die heiteren Seiten
des Lebens überhaupt in die Wiege gelegt. Er liebt
ſchöne Formen und giebt ſich mit Gefühl an dieſelben
hin. Er hat ein ausgeſprochenes Verſtändnis für die
Schönheiten ſeiner wunderbaren Natur. Wenn im
Februar die Pflaumen und anfangs April die Kirſchen
blühen, wenn Ende Oktober die Knoſpen der Aſtern ſich
erſchließen und ihre ſchmalen Blätter ſonnenſtrahlenförmig
entfalten; wenn im November das Laub des Ahorns vor
dem Sterben ſich blutig rot färbt wie der Abendhimmel,
wenn die Sonne hinabſinkt; wenn im Winter die Erde
in ihr weißes Schneekleid ſich hüllt, was allerdings ſelten
genug vorkommt: dann ſtrömt jung und alt hinaus,
um ſich des ſchönen Anblicks zu freuen. Die beiden
großen Geſellſchaften, welche der Kaiſer alljährlich zu
geben pflegt, und zu denen der Adel, die hohe Beamten-
ſchaft und die Elite der europäiſchen Geſellſchaft ein-
geladen werden, finden bezeichnender Weiſe in den kaiſer-
lichen Gärten ſtatt und zwar zur Zeit der Kirſch- und
der Chryſanthemumblüte. Gern verweilen ſie eine Stunde
oder zwei angeſichts eines ſprühenden Waſſerfalls und
die Zweige einer Fichte, regungslos über die ſtillen Fluten
eines dunkeln Sees gebeugt, erfüllen ſie mit Entzücken.
In der Dämmerung des Abends gehen ſie hin nach einem
lauſchigen Plätzchen, um dem Geſang der unguisu, der
Nachtigall, zu lauſchen, und beim Grauen des Tages,
wenn der hototogisu, der Kuckuck, ſeinen eintönig melan-
choliſchen Ruf hören läßt, zieht es ſie hinaus nach dem
Wald. Jeder Japaner kennt die Schönheiten ſeines
Landes, und wer Zeit und Geld hat, ſcheut auch die
weiteſte Reiſe nicht, ſie zu genießen. Es giebt Pſycho-
logen, welche die Liebe zu der Natur als die höchſte
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[76/0090] den Sinn für das Schöne, ja für die heiteren Seiten des Lebens überhaupt in die Wiege gelegt. Er liebt ſchöne Formen und giebt ſich mit Gefühl an dieſelben hin. Er hat ein ausgeſprochenes Verſtändnis für die Schönheiten ſeiner wunderbaren Natur. Wenn im Februar die Pflaumen und anfangs April die Kirſchen blühen, wenn Ende Oktober die Knoſpen der Aſtern ſich erſchließen und ihre ſchmalen Blätter ſonnenſtrahlenförmig entfalten; wenn im November das Laub des Ahorns vor dem Sterben ſich blutig rot färbt wie der Abendhimmel, wenn die Sonne hinabſinkt; wenn im Winter die Erde in ihr weißes Schneekleid ſich hüllt, was allerdings ſelten genug vorkommt: dann ſtrömt jung und alt hinaus, um ſich des ſchönen Anblicks zu freuen. Die beiden großen Geſellſchaften, welche der Kaiſer alljährlich zu geben pflegt, und zu denen der Adel, die hohe Beamten- ſchaft und die Elite der europäiſchen Geſellſchaft ein- geladen werden, finden bezeichnender Weiſe in den kaiſer- lichen Gärten ſtatt und zwar zur Zeit der Kirſch- und der Chryſanthemumblüte. Gern verweilen ſie eine Stunde oder zwei angeſichts eines ſprühenden Waſſerfalls und die Zweige einer Fichte, regungslos über die ſtillen Fluten eines dunkeln Sees gebeugt, erfüllen ſie mit Entzücken. In der Dämmerung des Abends gehen ſie hin nach einem lauſchigen Plätzchen, um dem Geſang der unguisu, der Nachtigall, zu lauſchen, und beim Grauen des Tages, wenn der hototogisu, der Kuckuck, ſeinen eintönig melan- choliſchen Ruf hören läßt, zieht es ſie hinaus nach dem Wald. Jeder Japaner kennt die Schönheiten ſeines Landes, und wer Zeit und Geld hat, ſcheut auch die weiteſte Reiſe nicht, ſie zu genießen. Es giebt Pſycho- logen, welche die Liebe zu der Natur als die höchſte Entwicklung des Geiſtes bezeichnen, und wenn man ſieht,

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/90>, abgerufen am 24.11.2024.