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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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richt in einer Elementarschule beizuwohnen. Da habe ich
denn öfter gesehen, wie die Schüler ein Lesestück völlig
richtig ablasen oder vielmehr aufsagten, während sie doch
mit ihren Fingern in einer ganz andern Zeile, wenn
nicht gar auf einer andern Seite herumtippten. Schließ-
lich lernen sie aber auf diese mechanische Weise doch lesen.

Thun wir nun einen Blick in die Geistesmächte
des Japaners, so finden wir hier bestätigt, was
vorstehend gesagt wurde. Der Konfuzianismus, der
von den höheren Kreisen begünstigt ist, ist ein zwar
sittlich hochstehendes, aber trockenes und nüchternes Mo-
ralsystem ohne Höhen und Tiefen, ohne wirklichen Geistes-
flug. Er ist nicht geboren aus der Tiefe idealer Gedanken
oder gar einer himmelan strebenden Schwärmerei, viel-
mehr ist er die Schöpfung eines hervorragend prak-
tischen Geistes, welcher ganz auf dem Boden der kon-
kreten Wirklichkeit, der alltäglichen Erfahrung steht.
Ein solches System paßt zu dem Japaner. Der Bud-
dhismus, sowie er ursprünglich von dem erleuchteten
Buddha gelehrt wurde, gehört zu dem Tiefsinnigsten,
was je gedacht worden ist. Es ist eine Philosophie,
und noch dazu eine mystische Philosophie, welche nur
der sich aneignen kann, der sie innerlich durchdenkt und
durchfühlt. Man sucht aber nach dieser Art Buddhismus
dort vergebens. Der Japaner hat die Lehre Buddhas
zum greifbaren, grobsinnlichen, konkreten Götzendienst
verdichtet, hat sie so umgestaltet und beschnitten, wie
es seiner sinnlichen Veranlagung entsprach. Das ein-
zig Originale, was die Japaner auf diesem Gebiet
hervorbrachten, ist der Shintoismus. Wenn man aber
seiner Mythologie nachgeht, so ist man erstaunt über den
Mangel an sittlichen Gedanken und an poetischer Phan-
tasie. Das gemütvolle Volkslied des Deutschen, des Russen,

richt in einer Elementarſchule beizuwohnen. Da habe ich
denn öfter geſehen, wie die Schüler ein Leſeſtück völlig
richtig ablaſen oder vielmehr aufſagten, während ſie doch
mit ihren Fingern in einer ganz andern Zeile, wenn
nicht gar auf einer andern Seite herumtippten. Schließ-
lich lernen ſie aber auf dieſe mechaniſche Weiſe doch leſen.

Thun wir nun einen Blick in die Geiſtesmächte
des Japaners, ſo finden wir hier beſtätigt, was
vorſtehend geſagt wurde. Der Konfuzianismus, der
von den höheren Kreiſen begünſtigt iſt, iſt ein zwar
ſittlich hochſtehendes, aber trockenes und nüchternes Mo-
ralſyſtem ohne Höhen und Tiefen, ohne wirklichen Geiſtes-
flug. Er iſt nicht geboren aus der Tiefe idealer Gedanken
oder gar einer himmelan ſtrebenden Schwärmerei, viel-
mehr iſt er die Schöpfung eines hervorragend prak-
tiſchen Geiſtes, welcher ganz auf dem Boden der kon-
kreten Wirklichkeit, der alltäglichen Erfahrung ſteht.
Ein ſolches Syſtem paßt zu dem Japaner. Der Bud-
dhismus, ſowie er urſprünglich von dem erleuchteten
Buddha gelehrt wurde, gehört zu dem Tiefſinnigſten,
was je gedacht worden iſt. Es iſt eine Philoſophie,
und noch dazu eine myſtiſche Philoſophie, welche nur
der ſich aneignen kann, der ſie innerlich durchdenkt und
durchfühlt. Man ſucht aber nach dieſer Art Buddhismus
dort vergebens. Der Japaner hat die Lehre Buddhas
zum greifbaren, grobſinnlichen, konkreten Götzendienſt
verdichtet, hat ſie ſo umgeſtaltet und beſchnitten, wie
es ſeiner ſinnlichen Veranlagung entſprach. Das ein-
zig Originale, was die Japaner auf dieſem Gebiet
hervorbrachten, iſt der Shintoismus. Wenn man aber
ſeiner Mythologie nachgeht, ſo iſt man erſtaunt über den
Mangel an ſittlichen Gedanken und an poetiſcher Phan-
taſie. Das gemütvolle Volkslied des Deutſchen, des Ruſſen,

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[73/0087] richt in einer Elementarſchule beizuwohnen. Da habe ich denn öfter geſehen, wie die Schüler ein Leſeſtück völlig richtig ablaſen oder vielmehr aufſagten, während ſie doch mit ihren Fingern in einer ganz andern Zeile, wenn nicht gar auf einer andern Seite herumtippten. Schließ- lich lernen ſie aber auf dieſe mechaniſche Weiſe doch leſen. Thun wir nun einen Blick in die Geiſtesmächte des Japaners, ſo finden wir hier beſtätigt, was vorſtehend geſagt wurde. Der Konfuzianismus, der von den höheren Kreiſen begünſtigt iſt, iſt ein zwar ſittlich hochſtehendes, aber trockenes und nüchternes Mo- ralſyſtem ohne Höhen und Tiefen, ohne wirklichen Geiſtes- flug. Er iſt nicht geboren aus der Tiefe idealer Gedanken oder gar einer himmelan ſtrebenden Schwärmerei, viel- mehr iſt er die Schöpfung eines hervorragend prak- tiſchen Geiſtes, welcher ganz auf dem Boden der kon- kreten Wirklichkeit, der alltäglichen Erfahrung ſteht. Ein ſolches Syſtem paßt zu dem Japaner. Der Bud- dhismus, ſowie er urſprünglich von dem erleuchteten Buddha gelehrt wurde, gehört zu dem Tiefſinnigſten, was je gedacht worden iſt. Es iſt eine Philoſophie, und noch dazu eine myſtiſche Philoſophie, welche nur der ſich aneignen kann, der ſie innerlich durchdenkt und durchfühlt. Man ſucht aber nach dieſer Art Buddhismus dort vergebens. Der Japaner hat die Lehre Buddhas zum greifbaren, grobſinnlichen, konkreten Götzendienſt verdichtet, hat ſie ſo umgeſtaltet und beſchnitten, wie es ſeiner ſinnlichen Veranlagung entſprach. Das ein- zig Originale, was die Japaner auf dieſem Gebiet hervorbrachten, iſt der Shintoismus. Wenn man aber ſeiner Mythologie nachgeht, ſo iſt man erſtaunt über den Mangel an ſittlichen Gedanken und an poetiſcher Phan- taſie. Das gemütvolle Volkslied des Deutſchen, des Ruſſen,

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/87>, abgerufen am 24.11.2024.