Anprobieren. Macht man in einem japanischen Hause Besuch, so ist das erste nicht den Hut abzunehmen, sondern die Schuhe auszuziehen. Weiße Kleider, nicht schwarze, sind die Zeichen der Trauer, und bei einem Leichenbegängnis wird fast mehr gelacht als geweint.
Sehen wir hinein in das Geistesleben des Japaners, so zeigt sich uns hier dasselbe antipodische Verhältnis. Schon ein oberflächlicher Blick auf die mechanischen Äußerungen des Geisteslebens, z. B. auf Lesen und Schreiben, bestätigt das. Zwar das ginge ja wohl noch an, daß man nicht vorn auf der ersten Seite beginnt, sondern hinten auf der letzten, daß man nicht von links nach rechts liest und schreibt, sondern von rechts nach links. Das ist im Hebräischen und Arabischen auch nicht anders. Was uns vielmehr am meisten auffällt, ist der Umstand, daß man nicht wagerecht über das Blatt hin liest und schreibt, sondern senkrecht von oben nach unten. Es ist ja freilich alles, wie man es gewohnt ist; der Japaner findet unsere Art des Schreibens zum Lachen sonderbar. Kanimoji, Krabbenschrift, nennt er in seiner anschaulichen Art mit witzigem Spott unsere Schreib- weise, weil sie quer läuft wie die Krabbe. Ihm kommen unsere geradeliegenden Augen nicht minder merkwürdig vor wie uns seine Schlitzaugen, und mancher japanische Kuli mag bei dem Anblick der Lebensgewohnheiten des deutschen Professors, bei dem er in Dienst steht, zwei- felnd den Kopf schütteln in dem stillen Gedanken: Je gelehrter, je verkehrter.
Aber auch im innern Leben des Geistes liegt das gegensätzliche Verhältnis klar zu Tage. Die Denkformen sind hier und dort verschieden. Die Untersuchung über die Sprache hat uns den japanischen Geist schon in leichten Umrissen angedeutet: Ein noch unentwickelter, aber ge-
Anprobieren. Macht man in einem japaniſchen Hauſe Beſuch, ſo iſt das erſte nicht den Hut abzunehmen, ſondern die Schuhe auszuziehen. Weiße Kleider, nicht ſchwarze, ſind die Zeichen der Trauer, und bei einem Leichenbegängnis wird faſt mehr gelacht als geweint.
Sehen wir hinein in das Geiſtesleben des Japaners, ſo zeigt ſich uns hier dasſelbe antipodiſche Verhältnis. Schon ein oberflächlicher Blick auf die mechaniſchen Äußerungen des Geiſteslebens, z. B. auf Leſen und Schreiben, beſtätigt das. Zwar das ginge ja wohl noch an, daß man nicht vorn auf der erſten Seite beginnt, ſondern hinten auf der letzten, daß man nicht von links nach rechts lieſt und ſchreibt, ſondern von rechts nach links. Das iſt im Hebräiſchen und Arabiſchen auch nicht anders. Was uns vielmehr am meiſten auffällt, iſt der Umſtand, daß man nicht wagerecht über das Blatt hin lieſt und ſchreibt, ſondern ſenkrecht von oben nach unten. Es iſt ja freilich alles, wie man es gewohnt iſt; der Japaner findet unſere Art des Schreibens zum Lachen ſonderbar. Kanimoji, Krabbenſchrift, nennt er in ſeiner anſchaulichen Art mit witzigem Spott unſere Schreib- weiſe, weil ſie quer läuft wie die Krabbe. Ihm kommen unſere geradeliegenden Augen nicht minder merkwürdig vor wie uns ſeine Schlitzaugen, und mancher japaniſche Kuli mag bei dem Anblick der Lebensgewohnheiten des deutſchen Profeſſors, bei dem er in Dienſt ſteht, zwei- felnd den Kopf ſchütteln in dem ſtillen Gedanken: Je gelehrter, je verkehrter.
Aber auch im innern Leben des Geiſtes liegt das gegenſätzliche Verhältnis klar zu Tage. Die Denkformen ſind hier und dort verſchieden. Die Unterſuchung über die Sprache hat uns den japaniſchen Geiſt ſchon in leichten Umriſſen angedeutet: Ein noch unentwickelter, aber ge-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0077"n="63"/>
Anprobieren. Macht man in einem japaniſchen Hauſe<lb/>
Beſuch, ſo iſt das erſte nicht den Hut abzunehmen,<lb/>ſondern die Schuhe auszuziehen. Weiße Kleider, nicht<lb/>ſchwarze, ſind die Zeichen der Trauer, und bei einem<lb/>
Leichenbegängnis wird faſt mehr gelacht als geweint.</p><lb/><p>Sehen wir hinein in das Geiſtesleben des Japaners,<lb/>ſo zeigt ſich uns hier dasſelbe antipodiſche Verhältnis.<lb/>
Schon ein oberflächlicher Blick auf die mechaniſchen<lb/>
Äußerungen des Geiſteslebens, z. B. auf Leſen und<lb/>
Schreiben, beſtätigt das. Zwar das ginge ja wohl noch<lb/>
an, daß man nicht vorn auf der erſten Seite beginnt,<lb/>ſondern hinten auf der letzten, daß man nicht von links<lb/>
nach rechts lieſt und ſchreibt, ſondern von rechts nach<lb/>
links. Das iſt im Hebräiſchen und Arabiſchen auch nicht<lb/>
anders. Was uns vielmehr am meiſten auffällt, iſt der<lb/>
Umſtand, daß man nicht wagerecht über das Blatt hin<lb/>
lieſt und ſchreibt, ſondern ſenkrecht von oben nach unten.<lb/>
Es iſt ja freilich alles, wie man es gewohnt iſt; der<lb/>
Japaner findet unſere Art des Schreibens zum Lachen<lb/>ſonderbar. <hirendition="#aq">Kanimoji,</hi> Krabbenſchrift, nennt er in ſeiner<lb/>
anſchaulichen Art mit witzigem Spott unſere Schreib-<lb/>
weiſe, weil ſie quer läuft wie die Krabbe. Ihm kommen<lb/>
unſere geradeliegenden Augen nicht minder merkwürdig<lb/>
vor wie uns ſeine Schlitzaugen, und mancher japaniſche<lb/>
Kuli mag bei dem Anblick der Lebensgewohnheiten des<lb/>
deutſchen Profeſſors, bei dem er in Dienſt ſteht, zwei-<lb/>
felnd den Kopf ſchütteln in dem ſtillen Gedanken: Je<lb/>
gelehrter, je verkehrter.</p><lb/><p>Aber auch im innern Leben des Geiſtes liegt das<lb/>
gegenſätzliche Verhältnis klar zu Tage. Die Denkformen<lb/>ſind hier und dort verſchieden. Die Unterſuchung über<lb/>
die Sprache hat uns den japaniſchen Geiſt ſchon in leichten<lb/>
Umriſſen angedeutet: Ein noch unentwickelter, aber ge-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[63/0077]
Anprobieren. Macht man in einem japaniſchen Hauſe
Beſuch, ſo iſt das erſte nicht den Hut abzunehmen,
ſondern die Schuhe auszuziehen. Weiße Kleider, nicht
ſchwarze, ſind die Zeichen der Trauer, und bei einem
Leichenbegängnis wird faſt mehr gelacht als geweint.
Sehen wir hinein in das Geiſtesleben des Japaners,
ſo zeigt ſich uns hier dasſelbe antipodiſche Verhältnis.
Schon ein oberflächlicher Blick auf die mechaniſchen
Äußerungen des Geiſteslebens, z. B. auf Leſen und
Schreiben, beſtätigt das. Zwar das ginge ja wohl noch
an, daß man nicht vorn auf der erſten Seite beginnt,
ſondern hinten auf der letzten, daß man nicht von links
nach rechts lieſt und ſchreibt, ſondern von rechts nach
links. Das iſt im Hebräiſchen und Arabiſchen auch nicht
anders. Was uns vielmehr am meiſten auffällt, iſt der
Umſtand, daß man nicht wagerecht über das Blatt hin
lieſt und ſchreibt, ſondern ſenkrecht von oben nach unten.
Es iſt ja freilich alles, wie man es gewohnt iſt; der
Japaner findet unſere Art des Schreibens zum Lachen
ſonderbar. Kanimoji, Krabbenſchrift, nennt er in ſeiner
anſchaulichen Art mit witzigem Spott unſere Schreib-
weiſe, weil ſie quer läuft wie die Krabbe. Ihm kommen
unſere geradeliegenden Augen nicht minder merkwürdig
vor wie uns ſeine Schlitzaugen, und mancher japaniſche
Kuli mag bei dem Anblick der Lebensgewohnheiten des
deutſchen Profeſſors, bei dem er in Dienſt ſteht, zwei-
felnd den Kopf ſchütteln in dem ſtillen Gedanken: Je
gelehrter, je verkehrter.
Aber auch im innern Leben des Geiſtes liegt das
gegenſätzliche Verhältnis klar zu Tage. Die Denkformen
ſind hier und dort verſchieden. Die Unterſuchung über
die Sprache hat uns den japaniſchen Geiſt ſchon in leichten
Umriſſen angedeutet: Ein noch unentwickelter, aber ge-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/77>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.