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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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in ihrer jetzigen Form ist sie nicht imstande, die euro
päische Kultur zum Ausdruck zu bringen.

Von großer Tragweite ist dabei auch die Änderung
des chinesischen Schriftsystems. Die Versuche, das jetzige
Schriftsystem durch "Kana", die leichte japanische Silben-
schrift, oder "Romaji", die lateinische Schrift, zu ersetzen,
sind vorläufig als gescheitert zu betrachten. Das Interesse
für die Kana- und Romajibewegung, welches in den
achtziger Jahren sehr rege war, ist heute tot, und das
ist ein Beweis dafür, daß die Volksseele selbst einer
Abänderung widerstrebte.

Das Problem der Abänderung der Schrift ist darum
so außerordentlich schwierig, weil die Schrift, so wenig
wie die Sprache, etwas rein Mechanisches und Äußer-
liches ist, welches man leicht wechseln könnte wie ein
Kleid; vielmehr ist es ein psychologisches Problem, um
welches es sich dabei handelt. Unsere Schrift ist durchaus
abstrakt; unsere Zeichen als solche sagen dem Betrachten-
den nichts. Im Chinesischen dagegen ist das Schrift-
zeichen konkret; das Zeichen spricht direkt zu dem Be-
trachtenden wie ein Gemälde; der Begriff ist unmittel-
bar in dem Zeichen enthalten. Im Chinesischen wird
nach Art der Hieroglyphen dem Auge ein Bild der be-
treffenden Dinge dargeboten, so daß der Betrachtende
sinnlich erfaßt, was wir verstandesmäßig zu begreifen
gezwungen sind. Die Zeichen für Baum, Berg, Fluß,
Thor, Flügel etc. geben jetzt noch klar erkennbare Bilder
dieser Gegenstände. In andern Fällen enthält das
chinesische Zeichen ganze Definitionen, wo unsere ent-
sprechenden Schriftworte keinerlei Anhaltspunkte ihres
Sinnes geben; so schreibt man drei Bäume für Wald,
zwei Bäume für Park, Sonne und Mond für hell, Stein
und klein für Sand, Mitte und Herz für Treue, grün

in ihrer jetzigen Form iſt ſie nicht imſtande, die euro
päiſche Kultur zum Ausdruck zu bringen.

Von großer Tragweite iſt dabei auch die Änderung
des chineſiſchen Schriftſyſtems. Die Verſuche, das jetzige
Schriftſyſtem durch „Kana“, die leichte japaniſche Silben-
ſchrift, oder „Romaji“, die lateiniſche Schrift, zu erſetzen,
ſind vorläufig als geſcheitert zu betrachten. Das Intereſſe
für die Kana- und Romajibewegung, welches in den
achtziger Jahren ſehr rege war, iſt heute tot, und das
iſt ein Beweis dafür, daß die Volksſeele ſelbſt einer
Abänderung widerſtrebte.

Das Problem der Abänderung der Schrift iſt darum
ſo außerordentlich ſchwierig, weil die Schrift, ſo wenig
wie die Sprache, etwas rein Mechaniſches und Äußer-
liches iſt, welches man leicht wechſeln könnte wie ein
Kleid; vielmehr iſt es ein pſychologiſches Problem, um
welches es ſich dabei handelt. Unſere Schrift iſt durchaus
abſtrakt; unſere Zeichen als ſolche ſagen dem Betrachten-
den nichts. Im Chineſiſchen dagegen iſt das Schrift-
zeichen konkret; das Zeichen ſpricht direkt zu dem Be-
trachtenden wie ein Gemälde; der Begriff iſt unmittel-
bar in dem Zeichen enthalten. Im Chineſiſchen wird
nach Art der Hieroglyphen dem Auge ein Bild der be-
treffenden Dinge dargeboten, ſo daß der Betrachtende
ſinnlich erfaßt, was wir verſtandesmäßig zu begreifen
gezwungen ſind. Die Zeichen für Baum, Berg, Fluß,
Thor, Flügel ꝛc. geben jetzt noch klar erkennbare Bilder
dieſer Gegenſtände. In andern Fällen enthält das
chineſiſche Zeichen ganze Definitionen, wo unſere ent-
ſprechenden Schriftworte keinerlei Anhaltspunkte ihres
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zwei Bäume für Park, Sonne und Mond für hell, Stein
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[59/0073] in ihrer jetzigen Form iſt ſie nicht imſtande, die euro päiſche Kultur zum Ausdruck zu bringen. Von großer Tragweite iſt dabei auch die Änderung des chineſiſchen Schriftſyſtems. Die Verſuche, das jetzige Schriftſyſtem durch „Kana“, die leichte japaniſche Silben- ſchrift, oder „Romaji“, die lateiniſche Schrift, zu erſetzen, ſind vorläufig als geſcheitert zu betrachten. Das Intereſſe für die Kana- und Romajibewegung, welches in den achtziger Jahren ſehr rege war, iſt heute tot, und das iſt ein Beweis dafür, daß die Volksſeele ſelbſt einer Abänderung widerſtrebte. Das Problem der Abänderung der Schrift iſt darum ſo außerordentlich ſchwierig, weil die Schrift, ſo wenig wie die Sprache, etwas rein Mechaniſches und Äußer- liches iſt, welches man leicht wechſeln könnte wie ein Kleid; vielmehr iſt es ein pſychologiſches Problem, um welches es ſich dabei handelt. Unſere Schrift iſt durchaus abſtrakt; unſere Zeichen als ſolche ſagen dem Betrachten- den nichts. Im Chineſiſchen dagegen iſt das Schrift- zeichen konkret; das Zeichen ſpricht direkt zu dem Be- trachtenden wie ein Gemälde; der Begriff iſt unmittel- bar in dem Zeichen enthalten. Im Chineſiſchen wird nach Art der Hieroglyphen dem Auge ein Bild der be- treffenden Dinge dargeboten, ſo daß der Betrachtende ſinnlich erfaßt, was wir verſtandesmäßig zu begreifen gezwungen ſind. Die Zeichen für Baum, Berg, Fluß, Thor, Flügel ꝛc. geben jetzt noch klar erkennbare Bilder dieſer Gegenſtände. In andern Fällen enthält das chineſiſche Zeichen ganze Definitionen, wo unſere ent- ſprechenden Schriftworte keinerlei Anhaltspunkte ihres Sinnes geben; ſo ſchreibt man drei Bäume für Wald, zwei Bäume für Park, Sonne und Mond für hell, Stein und klein für Sand, Mitte und Herz für Treue, grün

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/73>, abgerufen am 24.11.2024.