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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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auf dem des Sehens diejenigen chinesischen Zeichen,
welche einfach Bilder, Photographien der entsprechen-
den Dinge sind; nennen wir es Gehörsideographie.
Man fühlt sich hier noch näher dem Ursprung der
Sprache, wie sie sich aus dem unmittelbaren Ausdruck
der inneren Gemütsbewegung oder in Nachahmung von
Außengeräuschen entwickelt hat. Wir Europäer haben
uns mehr und mehr daran gewöhnt, das Urteil auf
Grund einer zu ergänzenden sinnlichen Erfahrung zu
statuieren; Völker, welche der Natur nahe stehen, haben
mehr das Bedürfnis, die sinnliche Erfahrung selbst that-
sächlich zum Ausdruck zu bringen. Eine Art von Über-
gang finden wir in den ländlichen Dialekten unserer
deutschen Bevölkerung, wo der Naturlaut verhältnis-
mäßig noch stark vertreten ist, während er aus der
gebildeten Sprache faktisch verschwunden ist.

Was nicht im Einklang mit der sinnlichen Erfahrung
ist, ist dem Sprachbewußtsein des Japaners mehr oder
weniger fremd. So legen z. B. wir Europäer abstrakten
Begriffen Thätigkeiten bei, als wären dieselben wirklich
thätige Individuen, und wir haben dabei nicht das
geringste Bedenken. Anders der Japaner. Daher sind
in der japanischen Sprache abstrakte Begriffe an und
für sich schon viel seltener als bei uns. Die japanische
Sprache kennt z. B. wohl einzelne Gedichte (uta, shi);
für den abstrakten Begriff der Poesie hat sie kein Wort.
Sie lebt im einzelnen und besonderen, die Zusammen-
fassung des einzelnen zum allgemeinen ist nicht vollzogen.

Auch auf Kosten eines großen Umwegs vermeidet
der Japaner abstrakten Gedankenausdruck, wenn er
dadurch denselben konkret und anschaulich wiedergeben
kann. Der Japaner weiß z. B., daß der Lehrer lehrt,
weil er das täglich sieht; daß aber die Geschichte uns

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auf dem des Sehens diejenigen chineſiſchen Zeichen,
welche einfach Bilder, Photographien der entſprechen-
den Dinge ſind; nennen wir es Gehörsideographie.
Man fühlt ſich hier noch näher dem Urſprung der
Sprache, wie ſie ſich aus dem unmittelbaren Ausdruck
der inneren Gemütsbewegung oder in Nachahmung von
Außengeräuſchen entwickelt hat. Wir Europäer haben
uns mehr und mehr daran gewöhnt, das Urteil auf
Grund einer zu ergänzenden ſinnlichen Erfahrung zu
ſtatuieren; Völker, welche der Natur nahe ſtehen, haben
mehr das Bedürfnis, die ſinnliche Erfahrung ſelbſt that-
ſächlich zum Ausdruck zu bringen. Eine Art von Über-
gang finden wir in den ländlichen Dialekten unſerer
deutſchen Bevölkerung, wo der Naturlaut verhältnis-
mäßig noch ſtark vertreten iſt, während er aus der
gebildeten Sprache faktiſch verſchwunden iſt.

Was nicht im Einklang mit der ſinnlichen Erfahrung
iſt, iſt dem Sprachbewußtſein des Japaners mehr oder
weniger fremd. So legen z. B. wir Europäer abſtrakten
Begriffen Thätigkeiten bei, als wären dieſelben wirklich
thätige Individuen, und wir haben dabei nicht das
geringſte Bedenken. Anders der Japaner. Daher ſind
in der japaniſchen Sprache abſtrakte Begriffe an und
für ſich ſchon viel ſeltener als bei uns. Die japaniſche
Sprache kennt z. B. wohl einzelne Gedichte (uta, shi);
für den abſtrakten Begriff der Poeſie hat ſie kein Wort.
Sie lebt im einzelnen und beſonderen, die Zuſammen-
faſſung des einzelnen zum allgemeinen iſt nicht vollzogen.

Auch auf Koſten eines großen Umwegs vermeidet
der Japaner abſtrakten Gedankenausdruck, wenn er
dadurch denſelben konkret und anſchaulich wiedergeben
kann. Der Japaner weiß z. B., daß der Lehrer lehrt,
weil er das täglich ſieht; daß aber die Geſchichte uns

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[35/0049] auf dem des Sehens diejenigen chineſiſchen Zeichen, welche einfach Bilder, Photographien der entſprechen- den Dinge ſind; nennen wir es Gehörsideographie. Man fühlt ſich hier noch näher dem Urſprung der Sprache, wie ſie ſich aus dem unmittelbaren Ausdruck der inneren Gemütsbewegung oder in Nachahmung von Außengeräuſchen entwickelt hat. Wir Europäer haben uns mehr und mehr daran gewöhnt, das Urteil auf Grund einer zu ergänzenden ſinnlichen Erfahrung zu ſtatuieren; Völker, welche der Natur nahe ſtehen, haben mehr das Bedürfnis, die ſinnliche Erfahrung ſelbſt that- ſächlich zum Ausdruck zu bringen. Eine Art von Über- gang finden wir in den ländlichen Dialekten unſerer deutſchen Bevölkerung, wo der Naturlaut verhältnis- mäßig noch ſtark vertreten iſt, während er aus der gebildeten Sprache faktiſch verſchwunden iſt. Was nicht im Einklang mit der ſinnlichen Erfahrung iſt, iſt dem Sprachbewußtſein des Japaners mehr oder weniger fremd. So legen z. B. wir Europäer abſtrakten Begriffen Thätigkeiten bei, als wären dieſelben wirklich thätige Individuen, und wir haben dabei nicht das geringſte Bedenken. Anders der Japaner. Daher ſind in der japaniſchen Sprache abſtrakte Begriffe an und für ſich ſchon viel ſeltener als bei uns. Die japaniſche Sprache kennt z. B. wohl einzelne Gedichte (uta, shi); für den abſtrakten Begriff der Poeſie hat ſie kein Wort. Sie lebt im einzelnen und beſonderen, die Zuſammen- faſſung des einzelnen zum allgemeinen iſt nicht vollzogen. Auch auf Koſten eines großen Umwegs vermeidet der Japaner abſtrakten Gedankenausdruck, wenn er dadurch denſelben konkret und anſchaulich wiedergeben kann. Der Japaner weiß z. B., daß der Lehrer lehrt, weil er das täglich ſieht; daß aber die Geſchichte uns 3*

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/49>, abgerufen am 22.11.2024.