setzung. Mehr als einmal bin ich gefragt worden, woher es denn komme, daß der Übersetzer fast die doppelte Zeit des Originalvortrags brauche; die japa- nische Sprache scheine breiter zu sein als die deutsche. Diese Bemerkung ist zutreffend. Das Denken des Japaners fühlt sich mit der Art und Weise, in welcher wir unsere Gedanken auszudrücken pflegen, nicht be- friedigt. Der Japaner hat das Bedürfnis möglichst großer Anschaulichkeit und sieht sich darum veranlaßt, ein etwa vorliegendes englisches oder deutsches Original nach dieser Seite hin zu erweitern. Bei der Lektüre von japanischen Vorträgen von Abendländern kam es vor, daß ich durch die Bemerkung "Seiyo-kusai" ("das riecht nach Europa") unterbrochen wurde. Auf meine Frage: warum? lautete die Antwort, weil es zu kurz sei, das Japanische bedürfe noch einiger Erweiterungen, um die Handlung lebendiger und den Fortschritt an- schaulicher zu machen. Der Europäer ist mit dem Ge- danken zufrieden; nicht so der Japaner: durch Auge und Ohr, durch Geruch und Geschmack und Gefühl treten die Vorstellungen als empirische Realitäten in seinen Geist ein. Er denkt mit seinen fünf Sinnen, und der Ausdruck dieses Denkens, das ist die Sprache, steht unmittelbar auf dem Grunde der Wahrnehmung. Die konkrete Wirklichkeit ist ihre Lebensluft.
Daher ist die japanische Rede, sei sie öffentlich, sei sie Unterhaltungsrede, sehr beweglich. Phantasie, Ausmalung, nicht was wir mit genialer Phantasie be- zeichnen würden, sondern im Sinne einer Fertigkeit, nämlich der Fertigkeit, im gegebenen Fall anschaulich zu illustrieren, eignet dem Japaner in hohem Maße. Mit bewundernswerter Schlagfertigkeit weiß er stets einen konkreten Gegenstand zu finden, um einen Ge-
ſetzung. Mehr als einmal bin ich gefragt worden, woher es denn komme, daß der Überſetzer faſt die doppelte Zeit des Originalvortrags brauche; die japa- niſche Sprache ſcheine breiter zu ſein als die deutſche. Dieſe Bemerkung iſt zutreffend. Das Denken des Japaners fühlt ſich mit der Art und Weiſe, in welcher wir unſere Gedanken auszudrücken pflegen, nicht be- friedigt. Der Japaner hat das Bedürfnis möglichſt großer Anſchaulichkeit und ſieht ſich darum veranlaßt, ein etwa vorliegendes engliſches oder deutſches Original nach dieſer Seite hin zu erweitern. Bei der Lektüre von japaniſchen Vorträgen von Abendländern kam es vor, daß ich durch die Bemerkung „Seiyō-kusai“ („das riecht nach Europa“) unterbrochen wurde. Auf meine Frage: warum? lautete die Antwort, weil es zu kurz ſei, das Japaniſche bedürfe noch einiger Erweiterungen, um die Handlung lebendiger und den Fortſchritt an- ſchaulicher zu machen. Der Europäer iſt mit dem Ge- danken zufrieden; nicht ſo der Japaner: durch Auge und Ohr, durch Geruch und Geſchmack und Gefühl treten die Vorſtellungen als empiriſche Realitäten in ſeinen Geiſt ein. Er denkt mit ſeinen fünf Sinnen, und der Ausdruck dieſes Denkens, das iſt die Sprache, ſteht unmittelbar auf dem Grunde der Wahrnehmung. Die konkrete Wirklichkeit iſt ihre Lebensluft.
Daher iſt die japaniſche Rede, ſei ſie öffentlich, ſei ſie Unterhaltungsrede, ſehr beweglich. Phantaſie, Ausmalung, nicht was wir mit genialer Phantaſie be- zeichnen würden, ſondern im Sinne einer Fertigkeit, nämlich der Fertigkeit, im gegebenen Fall anſchaulich zu illuſtrieren, eignet dem Japaner in hohem Maße. Mit bewundernswerter Schlagfertigkeit weiß er ſtets einen konkreten Gegenſtand zu finden, um einen Ge-
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ſetzung. Mehr als einmal bin ich gefragt worden,
woher es denn komme, daß der Überſetzer faſt die
doppelte Zeit des Originalvortrags brauche; die japa-
niſche Sprache ſcheine breiter zu ſein als die deutſche.
Dieſe Bemerkung iſt zutreffend. Das Denken des
Japaners fühlt ſich mit der Art und Weiſe, in welcher
wir unſere Gedanken auszudrücken pflegen, nicht be-
friedigt. Der Japaner hat das Bedürfnis möglichſt
großer Anſchaulichkeit und ſieht ſich darum veranlaßt,
ein etwa vorliegendes engliſches oder deutſches Original
nach dieſer Seite hin zu erweitern. Bei der Lektüre
von japaniſchen Vorträgen von Abendländern kam es
vor, daß ich durch die Bemerkung „Seiyō-kusai“ („das
riecht nach Europa“) unterbrochen wurde. Auf meine
Frage: warum? lautete die Antwort, weil es zu kurz
ſei, das Japaniſche bedürfe noch einiger Erweiterungen,
um die Handlung lebendiger und den Fortſchritt an-
ſchaulicher zu machen. Der Europäer iſt mit dem Ge-
danken zufrieden; nicht ſo der Japaner: durch Auge
und Ohr, durch Geruch und Geſchmack und Gefühl
treten die Vorſtellungen als empiriſche Realitäten in
ſeinen Geiſt ein. Er denkt mit ſeinen fünf Sinnen,
und der Ausdruck dieſes Denkens, das iſt die Sprache,
ſteht unmittelbar auf dem Grunde der Wahrnehmung.
Die konkrete Wirklichkeit iſt ihre Lebensluft.
Daher iſt die japaniſche Rede, ſei ſie öffentlich,
ſei ſie Unterhaltungsrede, ſehr beweglich. Phantaſie,
Ausmalung, nicht was wir mit genialer Phantaſie be-
zeichnen würden, ſondern im Sinne einer Fertigkeit,
nämlich der Fertigkeit, im gegebenen Fall anſchaulich
zu illuſtrieren, eignet dem Japaner in hohem Maße.
Mit bewundernswerter Schlagfertigkeit weiß er ſtets
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/42>, abgerufen am 09.11.2024.
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