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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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merksamkeit folgt man der Predigt, und je länger sie
dauert, desto lieber lauscht man; mit Bewegung und
Inbrunst werden die Gebete gesprochen. Hat auch der
Eintritt in das Gotteshaus nicht unmittelbar die An-
dacht geweckt, wenn man die Kirche verläßt, ist die ge-
hobene Stimmung in vollem Maße vorhanden.

Bei all seiner Nüchternheit ist der ganze Verlauf
ein durchaus würdiger. Selbst die Störungen durch
Ab- und Zugehen sind gering und die außerordentliche
Seltenheit eigentlicher Skandalscenen ist ein schöner
Beleg für die Wohlanständigkeit des Volks. Auch die
nichtgläubigen Besucher verhalten sich ruhig, und selbst
buddhistische Priester hören sich die Predigt an, ohne
auch nur durch eine Miene ihre Mißbilligung kund zu
thun 1). Wenn die Heiden beim Singen sich gleich den
Gläubigen von ihren Plätzen erheben würden, anstatt
zur Unterscheidung von diesen sitzen zu bleiben, so könnte
man sie sehr wohl auch für Christen halten.

Im Anfang hält es sehr schwer, die Besucher an
ein pünktliches Erscheinen zu gewöhnen. Pünktlichkeit
sucht man eben in dem Register der japanischen Tugend-
lehre vergebens. Ich selbst hatte zeitweilig auf dem
Lande zu predigen. Da ich meine Japaner kannte, so
setzte ich wohlweislich die Versammlungen immer schon
auf eine Stunde vor Ankunft meines Zuges an. Ich
hätte sie aber manchmal noch viel früher ansetzen dürfen.
Denn mehr als einmal mußte ich noch zwei volle
Stunden warten, ehe Zuhörer kamen; aber schließlich
kamen sie doch. In den organisierten Gemeinden ist

1) In Osaka hatten wir freilich einmal sehr aufgeregte Ver-
sammlungen, wo wir nur unter fortwährendem heftigem und fast
thätlich gewordenem Widerspruche von seiten eines großen Teils
der Zuhörerschaft sprechen konnten. Doch handelte es sich hier
um Vorträge, nicht um Gottesdienste.
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merkſamkeit folgt man der Predigt, und je länger ſie
dauert, deſto lieber lauſcht man; mit Bewegung und
Inbrunſt werden die Gebete geſprochen. Hat auch der
Eintritt in das Gotteshaus nicht unmittelbar die An-
dacht geweckt, wenn man die Kirche verläßt, iſt die ge-
hobene Stimmung in vollem Maße vorhanden.

Bei all ſeiner Nüchternheit iſt der ganze Verlauf
ein durchaus würdiger. Selbſt die Störungen durch
Ab- und Zugehen ſind gering und die außerordentliche
Seltenheit eigentlicher Skandalſcenen iſt ein ſchöner
Beleg für die Wohlanſtändigkeit des Volks. Auch die
nichtgläubigen Beſucher verhalten ſich ruhig, und ſelbſt
buddhiſtiſche Prieſter hören ſich die Predigt an, ohne
auch nur durch eine Miene ihre Mißbilligung kund zu
thun 1). Wenn die Heiden beim Singen ſich gleich den
Gläubigen von ihren Plätzen erheben würden, anſtatt
zur Unterſcheidung von dieſen ſitzen zu bleiben, ſo könnte
man ſie ſehr wohl auch für Chriſten halten.

Im Anfang hält es ſehr ſchwer, die Beſucher an
ein pünktliches Erſcheinen zu gewöhnen. Pünktlichkeit
ſucht man eben in dem Regiſter der japaniſchen Tugend-
lehre vergebens. Ich ſelbſt hatte zeitweilig auf dem
Lande zu predigen. Da ich meine Japaner kannte, ſo
ſetzte ich wohlweislich die Verſammlungen immer ſchon
auf eine Stunde vor Ankunft meines Zuges an. Ich
hätte ſie aber manchmal noch viel früher anſetzen dürfen.
Denn mehr als einmal mußte ich noch zwei volle
Stunden warten, ehe Zuhörer kamen; aber ſchließlich
kamen ſie doch. In den organiſierten Gemeinden iſt

1) In Oſaka hatten wir freilich einmal ſehr aufgeregte Ver-
ſammlungen, wo wir nur unter fortwährendem heftigem und faſt
thätlich gewordenem Widerſpruche von ſeiten eines großen Teils
der Zuhörerſchaft ſprechen konnten. Doch handelte es ſich hier
um Vorträge, nicht um Gottesdienſte.
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[369/0383] merkſamkeit folgt man der Predigt, und je länger ſie dauert, deſto lieber lauſcht man; mit Bewegung und Inbrunſt werden die Gebete geſprochen. Hat auch der Eintritt in das Gotteshaus nicht unmittelbar die An- dacht geweckt, wenn man die Kirche verläßt, iſt die ge- hobene Stimmung in vollem Maße vorhanden. Bei all ſeiner Nüchternheit iſt der ganze Verlauf ein durchaus würdiger. Selbſt die Störungen durch Ab- und Zugehen ſind gering und die außerordentliche Seltenheit eigentlicher Skandalſcenen iſt ein ſchöner Beleg für die Wohlanſtändigkeit des Volks. Auch die nichtgläubigen Beſucher verhalten ſich ruhig, und ſelbſt buddhiſtiſche Prieſter hören ſich die Predigt an, ohne auch nur durch eine Miene ihre Mißbilligung kund zu thun 1). Wenn die Heiden beim Singen ſich gleich den Gläubigen von ihren Plätzen erheben würden, anſtatt zur Unterſcheidung von dieſen ſitzen zu bleiben, ſo könnte man ſie ſehr wohl auch für Chriſten halten. Im Anfang hält es ſehr ſchwer, die Beſucher an ein pünktliches Erſcheinen zu gewöhnen. Pünktlichkeit ſucht man eben in dem Regiſter der japaniſchen Tugend- lehre vergebens. Ich ſelbſt hatte zeitweilig auf dem Lande zu predigen. Da ich meine Japaner kannte, ſo ſetzte ich wohlweislich die Verſammlungen immer ſchon auf eine Stunde vor Ankunft meines Zuges an. Ich hätte ſie aber manchmal noch viel früher anſetzen dürfen. Denn mehr als einmal mußte ich noch zwei volle Stunden warten, ehe Zuhörer kamen; aber ſchließlich kamen ſie doch. In den organiſierten Gemeinden iſt 1) In Oſaka hatten wir freilich einmal ſehr aufgeregte Ver- ſammlungen, wo wir nur unter fortwährendem heftigem und faſt thätlich gewordenem Widerſpruche von ſeiten eines großen Teils der Zuhörerſchaft ſprechen konnten. Doch handelte es ſich hier um Vorträge, nicht um Gottesdienſte. 24

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/383>, abgerufen am 22.11.2024.