Vorliebe für deutsche Klassiker und für chinesischen Stil entschloß er sich zu dem Studium der Medizin. Auch hier lenkte er bald die Aufmerksamkeit auf sich. Wenn ich mich bei seinen deutschen Lehrern an der Universität nach ihm erkundigte, so hörte ich immer nur Worte des Lobes und der Anerkennung. "Und der gehört zu Ihnen?" fragten sie, "Nun, auf den dürfen Sie stolz sein". Und wir waren auch stolz auf ihn. Auch in der Gemeinde galt er viel, wenn er auch zu still und zurückgezogen war, um eine Rolle spielen zu wollen. Zwar war er langjähriger Vorsitzender des Studenten- vereins Sol Oriens und ein tüchtiger Mitarbeiter an unserer Zeitschrift Shinri, für welche er manche gute Übersetzung lieferte, aber ein hervorragendes Gemeinde- amt hat er nie verwaltet, und nicht ein einziges Mal habe ich ihn als Vorbeter gesehen. Aber am Sonntag sah man ihn auf seinem Platze in der hintersten Bank der Kirche; in mancher Bibelstunde auch war er zugegen, und manchen Spaziergang haben wir zusammen gemacht. In den Missionarshäusern war er ein gern gesehener Gast und manchmal habe ich ihn in seinem Studenten- zimmer in der Geshikuya (Logierhaus) besucht. Als ich im Jahre 1895 Tokyo verließ, rief ich ihm beim Abschied: "Auf Wiedersehen!" zu. Damals meinte ich, ihn im nächsten Jahre in Tokyo wieder zu treffen. Und nun -- begegnen wir uns unvermutet auf der Friedrich- straße von Berlin! Wir hatten uns viel zu erzählen, und des Freudigen und Schmerzlichen bekam ich genug zu hören. Am erfreulichsten aber war das, was ich über ihn selbst erfuhr. Er hatte bald nach meiner Rückkehr sein Abgangsexamen an der Universität be- standen und zwar mit solchem Erfolge, daß die Re- gierung auf ihn aufmerksam wurde. Eine Auszeichnung,
Vorliebe für deutſche Klaſſiker und für chineſiſchen Stil entſchloß er ſich zu dem Studium der Medizin. Auch hier lenkte er bald die Aufmerkſamkeit auf ſich. Wenn ich mich bei ſeinen deutſchen Lehrern an der Univerſität nach ihm erkundigte, ſo hörte ich immer nur Worte des Lobes und der Anerkennung. „Und der gehört zu Ihnen?“ fragten ſie, „Nun, auf den dürfen Sie ſtolz ſein“. Und wir waren auch ſtolz auf ihn. Auch in der Gemeinde galt er viel, wenn er auch zu ſtill und zurückgezogen war, um eine Rolle ſpielen zu wollen. Zwar war er langjähriger Vorſitzender des Studenten- vereins Sol Oriens und ein tüchtiger Mitarbeiter an unſerer Zeitſchrift Shinri, für welche er manche gute Überſetzung lieferte, aber ein hervorragendes Gemeinde- amt hat er nie verwaltet, und nicht ein einziges Mal habe ich ihn als Vorbeter geſehen. Aber am Sonntag ſah man ihn auf ſeinem Platze in der hinterſten Bank der Kirche; in mancher Bibelſtunde auch war er zugegen, und manchen Spaziergang haben wir zuſammen gemacht. In den Miſſionarshäuſern war er ein gern geſehener Gaſt und manchmal habe ich ihn in ſeinem Studenten- zimmer in der Geſhikuya (Logierhaus) beſucht. Als ich im Jahre 1895 Tokyo verließ, rief ich ihm beim Abſchied: „Auf Wiederſehen!“ zu. Damals meinte ich, ihn im nächſten Jahre in Tokyo wieder zu treffen. Und nun — begegnen wir uns unvermutet auf der Friedrich- ſtraße von Berlin! Wir hatten uns viel zu erzählen, und des Freudigen und Schmerzlichen bekam ich genug zu hören. Am erfreulichſten aber war das, was ich über ihn ſelbſt erfuhr. Er hatte bald nach meiner Rückkehr ſein Abgangsexamen an der Univerſität be- ſtanden und zwar mit ſolchem Erfolge, daß die Re- gierung auf ihn aufmerkſam wurde. Eine Auszeichnung,
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Vorliebe für deutſche Klaſſiker und für chineſiſchen Stil
entſchloß er ſich zu dem Studium der Medizin. Auch
hier lenkte er bald die Aufmerkſamkeit auf ſich. Wenn
ich mich bei ſeinen deutſchen Lehrern an der Univerſität
nach ihm erkundigte, ſo hörte ich immer nur Worte
des Lobes und der Anerkennung. „Und der gehört zu
Ihnen?“ fragten ſie, „Nun, auf den dürfen Sie ſtolz
ſein“. Und wir waren auch ſtolz auf ihn. Auch in
der Gemeinde galt er viel, wenn er auch zu ſtill und
zurückgezogen war, um eine Rolle ſpielen zu wollen.
Zwar war er langjähriger Vorſitzender des Studenten-
vereins Sol Oriens und ein tüchtiger Mitarbeiter an
unſerer Zeitſchrift Shinri, für welche er manche gute
Überſetzung lieferte, aber ein hervorragendes Gemeinde-
amt hat er nie verwaltet, und nicht ein einziges Mal
habe ich ihn als Vorbeter geſehen. Aber am Sonntag
ſah man ihn auf ſeinem Platze in der hinterſten Bank
der Kirche; in mancher Bibelſtunde auch war er zugegen,
und manchen Spaziergang haben wir zuſammen gemacht.
In den Miſſionarshäuſern war er ein gern geſehener
Gaſt und manchmal habe ich ihn in ſeinem Studenten-
zimmer in der Geſhikuya (Logierhaus) beſucht. Als
ich im Jahre 1895 Tokyo verließ, rief ich ihm beim
Abſchied: „Auf Wiederſehen!“ zu. Damals meinte ich,
ihn im nächſten Jahre in Tokyo wieder zu treffen. Und
nun — begegnen wir uns unvermutet auf der Friedrich-
ſtraße von Berlin! Wir hatten uns viel zu erzählen,
und des Freudigen und Schmerzlichen bekam ich genug
zu hören. Am erfreulichſten aber war das, was ich
über ihn ſelbſt erfuhr. Er hatte bald nach meiner
Rückkehr ſein Abgangsexamen an der Univerſität be-
ſtanden und zwar mit ſolchem Erfolge, daß die Re-
gierung auf ihn aufmerkſam wurde. Eine Auszeichnung,
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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/354>, abgerufen am 25.11.2024.
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