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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Inwieweit eine Priesterschaft, die sich trotz alles
zur Schau getragenen Ernstes beim Begegnen mit einem
innerlichen Augurenlächeln begrüßt, im stande ist, eine
sinkende Religion zu stützen, ist leicht zu ermessen.
Und doch, so sehr das Volk seine Bonzen zu verspotten
gewohnt ist, so hat es doch wieder eine gewisse Scheu
vor ihnen. Es ist dasselbe Verhältnis wie im Katho-
lizismus zu Ausgang des Mittelalters. Auch damals
machte man sich über die Priesterschaft lustig, und doch
beherrschten die Priester den Geist des Volks.

Darum erscheint es ausgeschlossen, daß trotz dieser
verkommenen Gesellschaft der Buddhismus rasch seiner
Auflösung entgegen geht. Zwar ist er seit der Be-
schneidung seiner Einkünfte (1868) auch in der Zahl
seiner Tempel und Bonzen 1) zurückgegangen. Aber es
sind doch feste Ketten, mit denen die Zauberei (und
darauf läuft ja doch der praktische Buddhismus hinaus)
das Volk gefangen hält. In Kyoto sah ich zwei neue
Tempel, die sogen. Hongwanjitempel 2). Die alten
waren abgebrannt und waren nun neu wieder aufge-
baut worden. Ihre Herstellungskosten beliefen sich auf
ein paar Millionen Mark. Das Geld war in über-
raschend kurzer Zeit zusammengekommen. Von weit
her waren die armen Leute aus dem niederen Volk
gekommen, um persönlich ihre Beiträge zu bringen.
Ich sah dort am Eingang der Tempelhalle Seile liegen,
welche dazu dienten, die Balken zum Bau des heiligen

1) Die Zahl der Bonzen beläuft sich auf rund 200,000, wo-
von ein viertel Nonnen. Vor 25 Jahren waren es 220,000.
2) Die Hongwanjitempel sind die Haupttempel oder Kathe-
dralen der Shinsekte. In jeder großen Stadt giebt es ihrer
zwei, nämlich einen Higashi (östlich) = und einen Nishi
(westlich) = Hongwanji.

Inwieweit eine Prieſterſchaft, die ſich trotz alles
zur Schau getragenen Ernſtes beim Begegnen mit einem
innerlichen Augurenlächeln begrüßt, im ſtande iſt, eine
ſinkende Religion zu ſtützen, iſt leicht zu ermeſſen.
Und doch, ſo ſehr das Volk ſeine Bonzen zu verſpotten
gewohnt iſt, ſo hat es doch wieder eine gewiſſe Scheu
vor ihnen. Es iſt dasſelbe Verhältnis wie im Katho-
lizismus zu Ausgang des Mittelalters. Auch damals
machte man ſich über die Prieſterſchaft luſtig, und doch
beherrſchten die Prieſter den Geiſt des Volks.

Darum erſcheint es ausgeſchloſſen, daß trotz dieſer
verkommenen Geſellſchaft der Buddhismus raſch ſeiner
Auflöſung entgegen geht. Zwar iſt er ſeit der Be-
ſchneidung ſeiner Einkünfte (1868) auch in der Zahl
ſeiner Tempel und Bonzen 1) zurückgegangen. Aber es
ſind doch feſte Ketten, mit denen die Zauberei (und
darauf läuft ja doch der praktiſche Buddhismus hinaus)
das Volk gefangen hält. In Kyōto ſah ich zwei neue
Tempel, die ſogen. Hongwanjitempel 2). Die alten
waren abgebrannt und waren nun neu wieder aufge-
baut worden. Ihre Herſtellungskoſten beliefen ſich auf
ein paar Millionen Mark. Das Geld war in über-
raſchend kurzer Zeit zuſammengekommen. Von weit
her waren die armen Leute aus dem niederen Volk
gekommen, um perſönlich ihre Beiträge zu bringen.
Ich ſah dort am Eingang der Tempelhalle Seile liegen,
welche dazu dienten, die Balken zum Bau des heiligen

1) Die Zahl der Bonzen beläuft ſich auf rund 200,000, wo-
von ein viertel Nonnen. Vor 25 Jahren waren es 220,000.
2) Die Hongwanjitempel ſind die Haupttempel oder Kathe-
dralen der Shinſekte. In jeder großen Stadt giebt es ihrer
zwei, nämlich einen Higaſhi (öſtlich) = und einen Niſhi
(weſtlich) = Hongwanji.
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[256/0270] Inwieweit eine Prieſterſchaft, die ſich trotz alles zur Schau getragenen Ernſtes beim Begegnen mit einem innerlichen Augurenlächeln begrüßt, im ſtande iſt, eine ſinkende Religion zu ſtützen, iſt leicht zu ermeſſen. Und doch, ſo ſehr das Volk ſeine Bonzen zu verſpotten gewohnt iſt, ſo hat es doch wieder eine gewiſſe Scheu vor ihnen. Es iſt dasſelbe Verhältnis wie im Katho- lizismus zu Ausgang des Mittelalters. Auch damals machte man ſich über die Prieſterſchaft luſtig, und doch beherrſchten die Prieſter den Geiſt des Volks. Darum erſcheint es ausgeſchloſſen, daß trotz dieſer verkommenen Geſellſchaft der Buddhismus raſch ſeiner Auflöſung entgegen geht. Zwar iſt er ſeit der Be- ſchneidung ſeiner Einkünfte (1868) auch in der Zahl ſeiner Tempel und Bonzen 1) zurückgegangen. Aber es ſind doch feſte Ketten, mit denen die Zauberei (und darauf läuft ja doch der praktiſche Buddhismus hinaus) das Volk gefangen hält. In Kyōto ſah ich zwei neue Tempel, die ſogen. Hongwanjitempel 2). Die alten waren abgebrannt und waren nun neu wieder aufge- baut worden. Ihre Herſtellungskoſten beliefen ſich auf ein paar Millionen Mark. Das Geld war in über- raſchend kurzer Zeit zuſammengekommen. Von weit her waren die armen Leute aus dem niederen Volk gekommen, um perſönlich ihre Beiträge zu bringen. Ich ſah dort am Eingang der Tempelhalle Seile liegen, welche dazu dienten, die Balken zum Bau des heiligen 1) Die Zahl der Bonzen beläuft ſich auf rund 200,000, wo- von ein viertel Nonnen. Vor 25 Jahren waren es 220,000. 2) Die Hongwanjitempel ſind die Haupttempel oder Kathe- dralen der Shinſekte. In jeder großen Stadt giebt es ihrer zwei, nämlich einen Higaſhi (öſtlich) = und einen Niſhi (weſtlich) = Hongwanji.

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/270>, abgerufen am 24.11.2024.