Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

ziemlich harmlos über den Götzendienst. "Laßt sie doch;
es schadet ja nichts; die Götzen sind ja tot und können
ihnen nichts Böses thun". Ob das wirklich so ist, ob
sie ihnen wirklich nichts Böses thun? Dann könnte es
ja schließlich keinen so großen Unterschied machen, ob
man zu dem einen Gott und Vater im Himmel betet
oder zu den Götzen! Und doch liegt das Gegenteil klar
zu Tage. Der tiefste Grund, aus dem heraus das
innerste Wesen eines Volkes geboren wird, ist doch wohl
seine Religion; und die höchsten Ziele, denen ein Volk
zustrebt, werden ihm doch wohl durch seine Religion
gewiesen. Wohl ist es bis zu einem gewissen Grade
wahr, daß ein Volk sich seine Religion macht; aber
ebenso wahr bleibt das andere, daß ein Volk nach seinem
inneren Wesen erst durch seine Religion gemacht wird.
Ein Volk ist so wie die Religion, aus der es heraus-
wächst; ein Volk wird schließlich ähnlich den Idealen,
die seine Religion ihm weist. Ist eine Religion eine
geistige, so wird sie allmählich das Wesen eines
Menschen und Volkes vergeistigen. Wir hätten uns
nimmermehr zu der jetzigen hohen Stufe der Geistes-
kultur erhoben, wenn wir nicht als Grund und Ziel
einen Gott hätten, der Geist ist. Und solange ein Volk
den geistigen Gott nicht kennt, solange wird ihm jeder
höhere Geistesflug schwer, wenn nicht unmöglich sein.
Es mag Fortschritte im Materiellen machen, aber die
Vertiefung des inneren Lebens wird ihm kaum gelingen,
und auf eine hohe Stufe des Geistes wird es sich nicht
erheben. Denn solange es noch zu Götzen aus Holz,
Stein und Erz betet, bleibt es mit seinem ganzen
Denken, Fühlen und Wollen an die Materie, an die
sinnliche, vergängliche Welt gebannt. Und doch kann
ein Mensch nicht zu dauerndem Glück gelangen, wenn

ziemlich harmlos über den Götzendienſt. „Laßt ſie doch;
es ſchadet ja nichts; die Götzen ſind ja tot und können
ihnen nichts Böſes thun“. Ob das wirklich ſo iſt, ob
ſie ihnen wirklich nichts Böſes thun? Dann könnte es
ja ſchließlich keinen ſo großen Unterſchied machen, ob
man zu dem einen Gott und Vater im Himmel betet
oder zu den Götzen! Und doch liegt das Gegenteil klar
zu Tage. Der tiefſte Grund, aus dem heraus das
innerſte Weſen eines Volkes geboren wird, iſt doch wohl
ſeine Religion; und die höchſten Ziele, denen ein Volk
zuſtrebt, werden ihm doch wohl durch ſeine Religion
gewieſen. Wohl iſt es bis zu einem gewiſſen Grade
wahr, daß ein Volk ſich ſeine Religion macht; aber
ebenſo wahr bleibt das andere, daß ein Volk nach ſeinem
inneren Weſen erſt durch ſeine Religion gemacht wird.
Ein Volk iſt ſo wie die Religion, aus der es heraus-
wächſt; ein Volk wird ſchließlich ähnlich den Idealen,
die ſeine Religion ihm weiſt. Iſt eine Religion eine
geiſtige, ſo wird ſie allmählich das Weſen eines
Menſchen und Volkes vergeiſtigen. Wir hätten uns
nimmermehr zu der jetzigen hohen Stufe der Geiſtes-
kultur erhoben, wenn wir nicht als Grund und Ziel
einen Gott hätten, der Geiſt iſt. Und ſolange ein Volk
den geiſtigen Gott nicht kennt, ſolange wird ihm jeder
höhere Geiſtesflug ſchwer, wenn nicht unmöglich ſein.
Es mag Fortſchritte im Materiellen machen, aber die
Vertiefung des inneren Lebens wird ihm kaum gelingen,
und auf eine hohe Stufe des Geiſtes wird es ſich nicht
erheben. Denn ſolange es noch zu Götzen aus Holz,
Stein und Erz betet, bleibt es mit ſeinem ganzen
Denken, Fühlen und Wollen an die Materie, an die
ſinnliche, vergängliche Welt gebannt. Und doch kann
ein Menſch nicht zu dauerndem Glück gelangen, wenn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0250" n="236"/>
ziemlich harmlos über den Götzendien&#x017F;t. &#x201E;Laßt &#x017F;ie doch;<lb/>
es &#x017F;chadet ja nichts; die Götzen &#x017F;ind ja tot und können<lb/>
ihnen nichts Bö&#x017F;es thun&#x201C;. Ob das wirklich &#x017F;o i&#x017F;t, ob<lb/>
&#x017F;ie ihnen wirklich nichts Bö&#x017F;es thun? Dann könnte es<lb/>
ja &#x017F;chließlich keinen &#x017F;o großen Unter&#x017F;chied machen, ob<lb/>
man zu dem einen Gott und Vater im Himmel betet<lb/>
oder zu den Götzen! Und doch liegt das Gegenteil klar<lb/>
zu Tage. Der tief&#x017F;te Grund, aus dem heraus das<lb/>
inner&#x017F;te We&#x017F;en eines Volkes geboren wird, i&#x017F;t doch wohl<lb/>
&#x017F;eine Religion; und die höch&#x017F;ten Ziele, denen ein Volk<lb/>
zu&#x017F;trebt, werden ihm doch wohl durch &#x017F;eine Religion<lb/>
gewie&#x017F;en. Wohl i&#x017F;t es bis zu einem gewi&#x017F;&#x017F;en Grade<lb/>
wahr, daß ein Volk &#x017F;ich &#x017F;eine Religion macht; aber<lb/>
eben&#x017F;o wahr bleibt das andere, daß ein Volk nach &#x017F;einem<lb/>
inneren We&#x017F;en er&#x017F;t durch &#x017F;eine Religion gemacht wird.<lb/>
Ein Volk i&#x017F;t &#x017F;o wie die Religion, aus der es heraus-<lb/>
wäch&#x017F;t; ein Volk wird &#x017F;chließlich ähnlich den Idealen,<lb/>
die &#x017F;eine Religion ihm wei&#x017F;t. I&#x017F;t eine Religion eine<lb/>
gei&#x017F;tige, &#x017F;o wird &#x017F;ie allmählich das We&#x017F;en eines<lb/>
Men&#x017F;chen und Volkes vergei&#x017F;tigen. Wir hätten uns<lb/>
nimmermehr zu der jetzigen hohen Stufe der Gei&#x017F;tes-<lb/>
kultur erhoben, wenn wir nicht als Grund und Ziel<lb/>
einen Gott hätten, der Gei&#x017F;t i&#x017F;t. Und &#x017F;olange ein Volk<lb/>
den gei&#x017F;tigen Gott nicht kennt, &#x017F;olange wird ihm jeder<lb/>
höhere Gei&#x017F;tesflug &#x017F;chwer, wenn nicht unmöglich &#x017F;ein.<lb/>
Es mag Fort&#x017F;chritte im Materiellen machen, aber die<lb/>
Vertiefung des inneren Lebens wird ihm kaum gelingen,<lb/>
und auf eine hohe Stufe des Gei&#x017F;tes wird es &#x017F;ich nicht<lb/>
erheben. Denn &#x017F;olange es noch zu Götzen aus Holz,<lb/>
Stein und Erz betet, bleibt es mit &#x017F;einem ganzen<lb/>
Denken, Fühlen und Wollen an die Materie, an die<lb/>
&#x017F;innliche, vergängliche Welt gebannt. Und doch kann<lb/>
ein Men&#x017F;ch nicht zu dauerndem Glück gelangen, wenn<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[236/0250] ziemlich harmlos über den Götzendienſt. „Laßt ſie doch; es ſchadet ja nichts; die Götzen ſind ja tot und können ihnen nichts Böſes thun“. Ob das wirklich ſo iſt, ob ſie ihnen wirklich nichts Böſes thun? Dann könnte es ja ſchließlich keinen ſo großen Unterſchied machen, ob man zu dem einen Gott und Vater im Himmel betet oder zu den Götzen! Und doch liegt das Gegenteil klar zu Tage. Der tiefſte Grund, aus dem heraus das innerſte Weſen eines Volkes geboren wird, iſt doch wohl ſeine Religion; und die höchſten Ziele, denen ein Volk zuſtrebt, werden ihm doch wohl durch ſeine Religion gewieſen. Wohl iſt es bis zu einem gewiſſen Grade wahr, daß ein Volk ſich ſeine Religion macht; aber ebenſo wahr bleibt das andere, daß ein Volk nach ſeinem inneren Weſen erſt durch ſeine Religion gemacht wird. Ein Volk iſt ſo wie die Religion, aus der es heraus- wächſt; ein Volk wird ſchließlich ähnlich den Idealen, die ſeine Religion ihm weiſt. Iſt eine Religion eine geiſtige, ſo wird ſie allmählich das Weſen eines Menſchen und Volkes vergeiſtigen. Wir hätten uns nimmermehr zu der jetzigen hohen Stufe der Geiſtes- kultur erhoben, wenn wir nicht als Grund und Ziel einen Gott hätten, der Geiſt iſt. Und ſolange ein Volk den geiſtigen Gott nicht kennt, ſolange wird ihm jeder höhere Geiſtesflug ſchwer, wenn nicht unmöglich ſein. Es mag Fortſchritte im Materiellen machen, aber die Vertiefung des inneren Lebens wird ihm kaum gelingen, und auf eine hohe Stufe des Geiſtes wird es ſich nicht erheben. Denn ſolange es noch zu Götzen aus Holz, Stein und Erz betet, bleibt es mit ſeinem ganzen Denken, Fühlen und Wollen an die Materie, an die ſinnliche, vergängliche Welt gebannt. Und doch kann ein Menſch nicht zu dauerndem Glück gelangen, wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/250
Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/250>, abgerufen am 22.11.2024.