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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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und ärmsten Schichten der Bevölkerung, aus welchen sich
das große Heer der Freudenmädchen zusammensetzt.
Hier empfinden es die Eltern selten als Unrecht, ihre
Töchter zu diesem Gewerbe zu bestimmen, noch sieht man
die Mädchen besonders darum an. Schriftsteller, welche
diesen Punkt des japanischen Lebens besonders aus-
führlich behandelt haben, behaupten, daß die Mädchen
innerlich nicht so verdorben seien wie ihre europäischen
Genossinnen, daß ihr Gewerbe dort nicht so sehr die
Ertötung der ganzen moralischen Persönlichkeit zur Folge
habe wie bei uns. Und in der That, sobald sie in die
Ehe treten, was ihnen bei der naiven Beurteilung ihres
Standes nicht schwer fällt, kann sich der Mann auf die
Treue seiner Gattin verlassen; dann kennt sie kein höheres
Ziel, als allen Pflichten ihrer neuen Stellung als ehr-
liche Frau voll und ganz zu genügen. Ehebruch von
seiten der Frau ist ein Ehescheidungsgrund. Aber so
selbstverständlich es im Prinzip ist, daß der Mann auch
in der Ehe freie Hand behält, so ist doch der Ehebruch
der Frau eine äußerst seltene Erscheinung. Zu jedem
japanischen Roman gehört ein Freudenhaus, aber die
modernen französischen Ehebruchsromane würden sich in
Japan aus Mangel an Untergrund nicht schreiben lassen.
Vor der Thüre des japanischen Hauses macht die Un-
sittlichkeit Halt, und die Luft, in welcher die Kinder des
Hauses aufwachsen, ist rein und lauter.

Kinder hat jedes Haus. Wem eigene Nachkommen-
schaft versagt blieb, adoptiert ein Kind. Die Adoption
ist überaus gebräuchlich. Ist sie doch das letzte Mittel,
um eine Familie vor dem gefürchtetsten aller Schicksale,
vor dem Aussterben, zu bewahren. Das adoptierte Kind
ist immer männlichen Geschlechts. Denn in jedem
Hause muß ein Stammhalter sein. Wo er fehlt, wo

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und ärmſten Schichten der Bevölkerung, aus welchen ſich
das große Heer der Freudenmädchen zuſammenſetzt.
Hier empfinden es die Eltern ſelten als Unrecht, ihre
Töchter zu dieſem Gewerbe zu beſtimmen, noch ſieht man
die Mädchen beſonders darum an. Schriftſteller, welche
dieſen Punkt des japaniſchen Lebens beſonders aus-
führlich behandelt haben, behaupten, daß die Mädchen
innerlich nicht ſo verdorben ſeien wie ihre europäiſchen
Genoſſinnen, daß ihr Gewerbe dort nicht ſo ſehr die
Ertötung der ganzen moraliſchen Perſönlichkeit zur Folge
habe wie bei uns. Und in der That, ſobald ſie in die
Ehe treten, was ihnen bei der naiven Beurteilung ihres
Standes nicht ſchwer fällt, kann ſich der Mann auf die
Treue ſeiner Gattin verlaſſen; dann kennt ſie kein höheres
Ziel, als allen Pflichten ihrer neuen Stellung als ehr-
liche Frau voll und ganz zu genügen. Ehebruch von
ſeiten der Frau iſt ein Eheſcheidungsgrund. Aber ſo
ſelbſtverſtändlich es im Prinzip iſt, daß der Mann auch
in der Ehe freie Hand behält, ſo iſt doch der Ehebruch
der Frau eine äußerſt ſeltene Erſcheinung. Zu jedem
japaniſchen Roman gehört ein Freudenhaus, aber die
modernen franzöſiſchen Ehebruchsromane würden ſich in
Japan aus Mangel an Untergrund nicht ſchreiben laſſen.
Vor der Thüre des japaniſchen Hauſes macht die Un-
ſittlichkeit Halt, und die Luft, in welcher die Kinder des
Hauſes aufwachſen, iſt rein und lauter.

Kinder hat jedes Haus. Wem eigene Nachkommen-
ſchaft verſagt blieb, adoptiert ein Kind. Die Adoption
iſt überaus gebräuchlich. Iſt ſie doch das letzte Mittel,
um eine Familie vor dem gefürchtetſten aller Schickſale,
vor dem Ausſterben, zu bewahren. Das adoptierte Kind
iſt immer männlichen Geſchlechts. Denn in jedem
Hauſe muß ein Stammhalter ſein. Wo er fehlt, wo

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[145/0159] und ärmſten Schichten der Bevölkerung, aus welchen ſich das große Heer der Freudenmädchen zuſammenſetzt. Hier empfinden es die Eltern ſelten als Unrecht, ihre Töchter zu dieſem Gewerbe zu beſtimmen, noch ſieht man die Mädchen beſonders darum an. Schriftſteller, welche dieſen Punkt des japaniſchen Lebens beſonders aus- führlich behandelt haben, behaupten, daß die Mädchen innerlich nicht ſo verdorben ſeien wie ihre europäiſchen Genoſſinnen, daß ihr Gewerbe dort nicht ſo ſehr die Ertötung der ganzen moraliſchen Perſönlichkeit zur Folge habe wie bei uns. Und in der That, ſobald ſie in die Ehe treten, was ihnen bei der naiven Beurteilung ihres Standes nicht ſchwer fällt, kann ſich der Mann auf die Treue ſeiner Gattin verlaſſen; dann kennt ſie kein höheres Ziel, als allen Pflichten ihrer neuen Stellung als ehr- liche Frau voll und ganz zu genügen. Ehebruch von ſeiten der Frau iſt ein Eheſcheidungsgrund. Aber ſo ſelbſtverſtändlich es im Prinzip iſt, daß der Mann auch in der Ehe freie Hand behält, ſo iſt doch der Ehebruch der Frau eine äußerſt ſeltene Erſcheinung. Zu jedem japaniſchen Roman gehört ein Freudenhaus, aber die modernen franzöſiſchen Ehebruchsromane würden ſich in Japan aus Mangel an Untergrund nicht ſchreiben laſſen. Vor der Thüre des japaniſchen Hauſes macht die Un- ſittlichkeit Halt, und die Luft, in welcher die Kinder des Hauſes aufwachſen, iſt rein und lauter. Kinder hat jedes Haus. Wem eigene Nachkommen- ſchaft verſagt blieb, adoptiert ein Kind. Die Adoption iſt überaus gebräuchlich. Iſt ſie doch das letzte Mittel, um eine Familie vor dem gefürchtetſten aller Schickſale, vor dem Ausſterben, zu bewahren. Das adoptierte Kind iſt immer männlichen Geſchlechts. Denn in jedem Hauſe muß ein Stammhalter ſein. Wo er fehlt, wo 10

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/159>, abgerufen am 17.05.2024.