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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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guten Bürgerkreise, die den Kern des Volkes ausmachen
und eine Ehre darein setzen, die Hüter der alten Ordnung
und Sitte zu sein, darf es nur cum grano salis gesagt
und verstanden werden. Unter den vielen Einwänden,
welche gegen einzelne Worte der Heiligen Schrift er-
hoben werden, ist mir -- es mag ja zufällig sein --
nie einer zu Ohren gekommen gegen den Satz: "Hier
ist nicht Mann noch Weib". Niemals hat man in
Japan die Frau so tief erniedrigt wie in den Ländern
des Islam, und wenn man auch zwischen den beiden
Geschlechtern die Schranken des Dekorums errichtet hat,
so hat man sie doch niemals gegen die Außenwelt ab-
gesperrt. Wohl ist es wahr: Als Mädchen hat sie
dem Vater, als Gattin dem Manne, als Mutter und
Witwe dem ältesten Sohne Gehorsam zu leisten. Aber
ich habe den Eindruck gewonnen, als ob man im prak-
tisch-ethischen Leben diesen Gehorsam nicht als sklavische
Dienstbarkeit verstehen dürfte, sondern vielmehr als still
sich bescheidende Zurückhaltung. Die Japanerin hat zu
gunsten ihres Vaters, ihres Mannes und ihres Sohnes
darauf zu verzichten, sich selbst geltend zu machen. Das
ist es, was der Mann von ihr verlangt.

Trotz dieser Milderung ist die Stellung der Frau
aber doch nicht die, wie sie sich in einem Kulturstaat
gebührt. Und wenn die Abendländerin heute ohne jeden
geschichtlichen Übergang gezwungen würde, unter solchen
Bedingungen in die Ehe zu treten, so wäre der baldige
Zusammenbruch aller gesellschaftlichen Ordnung die not-
wendige Folge. Die Japanerin dagegen, wie sie jetzt
ist, weiß sich in bewundernswerter Selbstverleugnung
und Aufopferung darin zu finden und damit abzufinden,
so daß der Stachel ihrer Abhängigkeit meist seine
Bitterkeit verliert. Ihr Gehorsam ist in der Regel

guten Bürgerkreiſe, die den Kern des Volkes ausmachen
und eine Ehre darein ſetzen, die Hüter der alten Ordnung
und Sitte zu ſein, darf es nur cum grano salis geſagt
und verſtanden werden. Unter den vielen Einwänden,
welche gegen einzelne Worte der Heiligen Schrift er-
hoben werden, iſt mir — es mag ja zufällig ſein —
nie einer zu Ohren gekommen gegen den Satz: „Hier
iſt nicht Mann noch Weib“. Niemals hat man in
Japan die Frau ſo tief erniedrigt wie in den Ländern
des Islam, und wenn man auch zwiſchen den beiden
Geſchlechtern die Schranken des Dekorums errichtet hat,
ſo hat man ſie doch niemals gegen die Außenwelt ab-
geſperrt. Wohl iſt es wahr: Als Mädchen hat ſie
dem Vater, als Gattin dem Manne, als Mutter und
Witwe dem älteſten Sohne Gehorſam zu leiſten. Aber
ich habe den Eindruck gewonnen, als ob man im prak-
tiſch-ethiſchen Leben dieſen Gehorſam nicht als ſklaviſche
Dienſtbarkeit verſtehen dürfte, ſondern vielmehr als ſtill
ſich beſcheidende Zurückhaltung. Die Japanerin hat zu
gunſten ihres Vaters, ihres Mannes und ihres Sohnes
darauf zu verzichten, ſich ſelbſt geltend zu machen. Das
iſt es, was der Mann von ihr verlangt.

Trotz dieſer Milderung iſt die Stellung der Frau
aber doch nicht die, wie ſie ſich in einem Kulturſtaat
gebührt. Und wenn die Abendländerin heute ohne jeden
geſchichtlichen Übergang gezwungen würde, unter ſolchen
Bedingungen in die Ehe zu treten, ſo wäre der baldige
Zuſammenbruch aller geſellſchaftlichen Ordnung die not-
wendige Folge. Die Japanerin dagegen, wie ſie jetzt
iſt, weiß ſich in bewundernswerter Selbſtverleugnung
und Aufopferung darin zu finden und damit abzufinden,
ſo daß der Stachel ihrer Abhängigkeit meiſt ſeine
Bitterkeit verliert. Ihr Gehorſam iſt in der Regel

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[137/0151] guten Bürgerkreiſe, die den Kern des Volkes ausmachen und eine Ehre darein ſetzen, die Hüter der alten Ordnung und Sitte zu ſein, darf es nur cum grano salis geſagt und verſtanden werden. Unter den vielen Einwänden, welche gegen einzelne Worte der Heiligen Schrift er- hoben werden, iſt mir — es mag ja zufällig ſein — nie einer zu Ohren gekommen gegen den Satz: „Hier iſt nicht Mann noch Weib“. Niemals hat man in Japan die Frau ſo tief erniedrigt wie in den Ländern des Islam, und wenn man auch zwiſchen den beiden Geſchlechtern die Schranken des Dekorums errichtet hat, ſo hat man ſie doch niemals gegen die Außenwelt ab- geſperrt. Wohl iſt es wahr: Als Mädchen hat ſie dem Vater, als Gattin dem Manne, als Mutter und Witwe dem älteſten Sohne Gehorſam zu leiſten. Aber ich habe den Eindruck gewonnen, als ob man im prak- tiſch-ethiſchen Leben dieſen Gehorſam nicht als ſklaviſche Dienſtbarkeit verſtehen dürfte, ſondern vielmehr als ſtill ſich beſcheidende Zurückhaltung. Die Japanerin hat zu gunſten ihres Vaters, ihres Mannes und ihres Sohnes darauf zu verzichten, ſich ſelbſt geltend zu machen. Das iſt es, was der Mann von ihr verlangt. Trotz dieſer Milderung iſt die Stellung der Frau aber doch nicht die, wie ſie ſich in einem Kulturſtaat gebührt. Und wenn die Abendländerin heute ohne jeden geſchichtlichen Übergang gezwungen würde, unter ſolchen Bedingungen in die Ehe zu treten, ſo wäre der baldige Zuſammenbruch aller geſellſchaftlichen Ordnung die not- wendige Folge. Die Japanerin dagegen, wie ſie jetzt iſt, weiß ſich in bewundernswerter Selbſtverleugnung und Aufopferung darin zu finden und damit abzufinden, ſo daß der Stachel ihrer Abhängigkeit meiſt ſeine Bitterkeit verliert. Ihr Gehorſam iſt in der Regel

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/151>, abgerufen am 22.11.2024.