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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Sanguiniker wie er ist, frägt er bei seinem Thun und
Handeln nicht so sehr nach den ewigen Gesetzen der
Moral, als nach dem Urteil der Welt. Die ganze
Kulturwut der letzten Jahrzehnte erklärt sich zum Teil
aus seinem Ehrgeiz, vor den Augen der Welt bestehen
und den Vergleich mit Europa aushalten zu können.
Humane Anwandlungen, wie die Einführung des Roten
Kreuzes und die menschliche Behandlung der Kriegs-
gefangenen, sind weniger auf einen tiefen sittlichen Kern
zurückzuführen, als vielmehr auf die Frage: Was
würde Europa dazu sagen, wenn wir es anders machten!
Man muß vorsichtig sein, ihm solches als moralisches
Verdienst anzurechnen: Es ist in vielen Fällen nichts
anderes als Tünche, schöner Anstrich, um die Augen der
Beschauer zu bestechen oder -- um es anders auszu-
drücken -- Sand, den man den Leuten in die Augen
streut. So lange es sich um praktisch Nützliches handelt,
glaube ich an seinen Ernst; darüber hinaus aber bin
ich mißtrauisch. Und wenn schon der ganzen modernen
Kultur Japans etwas Maschinenhaftes anklebt, so ist
dieses vollends nichts weiter als offenbare äußerliche
Anpassung.

Das Geld gilt ihm nichts, die Ehre alles; den
Geldgeiz verachtet er, der Ehrgeiz beherrscht ihn. Er
ist eher verschwenderisch als habsüchtig. In Geldsachen
besitzt er eine hervorragende Noblesse. Der Diebstahl,
wenn er natürlicherweise auch vorkommt, ist doch seiner
Natur fremd. Ich hatte alle meine Sachen unver-
schlossen, selbst kleinere Geldbeträge; nie ist mir etwas
abhanden gekommen, ausgenommen Bücher. Nur vor
Wegleihen soll man sich hüten. Der Materialismus,
mit welchem sein Geistesleben behaftet ist, äußert sich
nicht in der Gier nach materiellen Schätzen oder auch

Sanguiniker wie er iſt, frägt er bei ſeinem Thun und
Handeln nicht ſo ſehr nach den ewigen Geſetzen der
Moral, als nach dem Urteil der Welt. Die ganze
Kulturwut der letzten Jahrzehnte erklärt ſich zum Teil
aus ſeinem Ehrgeiz, vor den Augen der Welt beſtehen
und den Vergleich mit Europa aushalten zu können.
Humane Anwandlungen, wie die Einführung des Roten
Kreuzes und die menſchliche Behandlung der Kriegs-
gefangenen, ſind weniger auf einen tiefen ſittlichen Kern
zurückzuführen, als vielmehr auf die Frage: Was
würde Europa dazu ſagen, wenn wir es anders machten!
Man muß vorſichtig ſein, ihm ſolches als moraliſches
Verdienſt anzurechnen: Es iſt in vielen Fällen nichts
anderes als Tünche, ſchöner Anſtrich, um die Augen der
Beſchauer zu beſtechen oder — um es anders auszu-
drücken — Sand, den man den Leuten in die Augen
ſtreut. So lange es ſich um praktiſch Nützliches handelt,
glaube ich an ſeinen Ernſt; darüber hinaus aber bin
ich mißtrauiſch. Und wenn ſchon der ganzen modernen
Kultur Japans etwas Maſchinenhaftes anklebt, ſo iſt
dieſes vollends nichts weiter als offenbare äußerliche
Anpaſſung.

Das Geld gilt ihm nichts, die Ehre alles; den
Geldgeiz verachtet er, der Ehrgeiz beherrſcht ihn. Er
iſt eher verſchwenderiſch als habſüchtig. In Geldſachen
beſitzt er eine hervorragende Nobleſſe. Der Diebſtahl,
wenn er natürlicherweiſe auch vorkommt, iſt doch ſeiner
Natur fremd. Ich hatte alle meine Sachen unver-
ſchloſſen, ſelbſt kleinere Geldbeträge; nie iſt mir etwas
abhanden gekommen, ausgenommen Bücher. Nur vor
Wegleihen ſoll man ſich hüten. Der Materialismus,
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nicht in der Gier nach materiellen Schätzen oder auch

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[114/0128] Sanguiniker wie er iſt, frägt er bei ſeinem Thun und Handeln nicht ſo ſehr nach den ewigen Geſetzen der Moral, als nach dem Urteil der Welt. Die ganze Kulturwut der letzten Jahrzehnte erklärt ſich zum Teil aus ſeinem Ehrgeiz, vor den Augen der Welt beſtehen und den Vergleich mit Europa aushalten zu können. Humane Anwandlungen, wie die Einführung des Roten Kreuzes und die menſchliche Behandlung der Kriegs- gefangenen, ſind weniger auf einen tiefen ſittlichen Kern zurückzuführen, als vielmehr auf die Frage: Was würde Europa dazu ſagen, wenn wir es anders machten! Man muß vorſichtig ſein, ihm ſolches als moraliſches Verdienſt anzurechnen: Es iſt in vielen Fällen nichts anderes als Tünche, ſchöner Anſtrich, um die Augen der Beſchauer zu beſtechen oder — um es anders auszu- drücken — Sand, den man den Leuten in die Augen ſtreut. So lange es ſich um praktiſch Nützliches handelt, glaube ich an ſeinen Ernſt; darüber hinaus aber bin ich mißtrauiſch. Und wenn ſchon der ganzen modernen Kultur Japans etwas Maſchinenhaftes anklebt, ſo iſt dieſes vollends nichts weiter als offenbare äußerliche Anpaſſung. Das Geld gilt ihm nichts, die Ehre alles; den Geldgeiz verachtet er, der Ehrgeiz beherrſcht ihn. Er iſt eher verſchwenderiſch als habſüchtig. In Geldſachen beſitzt er eine hervorragende Nobleſſe. Der Diebſtahl, wenn er natürlicherweiſe auch vorkommt, iſt doch ſeiner Natur fremd. Ich hatte alle meine Sachen unver- ſchloſſen, ſelbſt kleinere Geldbeträge; nie iſt mir etwas abhanden gekommen, ausgenommen Bücher. Nur vor Wegleihen ſoll man ſich hüten. Der Materialismus, mit welchem ſein Geiſtesleben behaftet iſt, äußert ſich nicht in der Gier nach materiellen Schätzen oder auch

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/128>, abgerufen am 18.05.2024.