Und diese Erfahrung läßt sich auf allen Gebieten machen. Nirgends ruhiges Fortschreiten, überall Sprünge, das Fallen von einem Extrem in das andere. Während vor dreißig Jahren der Absolutismus die einzige poli- tische Anschauung war, die man kannte, ist heute das ganze Volk angesteckt von den Gedanken der Demokratie. Während man damals noch auf die Autorität des Buddha und Konfuzius schwor, ist man es heute gewöhnt, ihrer zu spotten. Während man damals in tiefer Ehrfurcht zu den Füßen seiner Lehrer saß und ihren Worten lauschte als einer höheren Offenbarung, wird heute der Lehrer von dem Schüler gemeistert. Bekennt sich heute einer zu der orthodoxesten Form des Christentums, wie er es von dem engherzigsten amerikanischen Missionar erhalten hat, morgen ist er vielleicht ein Atheist. Es ist ein Radikalismus des Denkens, wie man ihn bei keinem andern Volke trifft. Wohl mag ein gut Teil des radikalen und unsteten Charakters zurückzuführen sein auf die knabenhafte Unreife, auf die Unfähigkeit des Sklaven, die ihm soeben geschenkte Freiheit recht zu benützen. Aber im wesentlichen ist sie begründet in der Eigentümlichkeit des japanischen Denkens.
Seiner Form nach ist dieses Denken impulsiv d. h. stoßweise, vulkanisch. Ein Sichvertiefen liebt der Ja- paner nicht; und so ausdauernd er in der langwierigsten technischen oder experimentierenden Arbeit ist, ein stetiges ruhiges Durchdenken einer Sache ist ihm zuwider. Die deutschen Professoren haben stets Klage zu führen, wie schwer es ist, den Studenten den Begriff der Ent- wicklung und Kausalität, diese Grundlage alles wissen- schaftlichen Erkennens, beizubringen. Warum aber ist es so schwer? Weil die Form des japanischen Denkens nicht die der ruhigen, langsamen Entwicklung, nicht die
Und dieſe Erfahrung läßt ſich auf allen Gebieten machen. Nirgends ruhiges Fortſchreiten, überall Sprünge, das Fallen von einem Extrem in das andere. Während vor dreißig Jahren der Abſolutismus die einzige poli- tiſche Anſchauung war, die man kannte, iſt heute das ganze Volk angeſteckt von den Gedanken der Demokratie. Während man damals noch auf die Autorität des Buddha und Konfuzius ſchwor, iſt man es heute gewöhnt, ihrer zu ſpotten. Während man damals in tiefer Ehrfurcht zu den Füßen ſeiner Lehrer ſaß und ihren Worten lauſchte als einer höheren Offenbarung, wird heute der Lehrer von dem Schüler gemeiſtert. Bekennt ſich heute einer zu der orthodoxeſten Form des Chriſtentums, wie er es von dem engherzigſten amerikaniſchen Miſſionar erhalten hat, morgen iſt er vielleicht ein Atheiſt. Es iſt ein Radikalismus des Denkens, wie man ihn bei keinem andern Volke trifft. Wohl mag ein gut Teil des radikalen und unſteten Charakters zurückzuführen ſein auf die knabenhafte Unreife, auf die Unfähigkeit des Sklaven, die ihm ſoeben geſchenkte Freiheit recht zu benützen. Aber im weſentlichen iſt ſie begründet in der Eigentümlichkeit des japaniſchen Denkens.
Seiner Form nach iſt dieſes Denken impulſiv d. h. ſtoßweiſe, vulkaniſch. Ein Sichvertiefen liebt der Ja- paner nicht; und ſo ausdauernd er in der langwierigſten techniſchen oder experimentierenden Arbeit iſt, ein ſtetiges ruhiges Durchdenken einer Sache iſt ihm zuwider. Die deutſchen Profeſſoren haben ſtets Klage zu führen, wie ſchwer es iſt, den Studenten den Begriff der Ent- wicklung und Kauſalität, dieſe Grundlage alles wiſſen- ſchaftlichen Erkennens, beizubringen. Warum aber iſt es ſo ſchwer? Weil die Form des japaniſchen Denkens nicht die der ruhigen, langſamen Entwicklung, nicht die
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0124"n="110"/><p>Und dieſe Erfahrung läßt ſich auf allen Gebieten<lb/>
machen. Nirgends ruhiges Fortſchreiten, überall Sprünge,<lb/>
das Fallen von einem Extrem in das andere. Während<lb/>
vor dreißig Jahren der Abſolutismus die einzige poli-<lb/>
tiſche Anſchauung war, die man kannte, iſt heute das<lb/>
ganze Volk angeſteckt von den Gedanken der Demokratie.<lb/>
Während man damals noch auf die Autorität des Buddha<lb/>
und Konfuzius ſchwor, iſt man es heute gewöhnt, ihrer<lb/>
zu ſpotten. Während man damals in tiefer Ehrfurcht<lb/>
zu den Füßen ſeiner Lehrer ſaß und ihren Worten<lb/>
lauſchte als einer höheren Offenbarung, wird heute der<lb/>
Lehrer von dem Schüler gemeiſtert. Bekennt ſich heute<lb/>
einer zu der orthodoxeſten Form des Chriſtentums, wie<lb/>
er es von dem engherzigſten amerikaniſchen Miſſionar<lb/>
erhalten hat, morgen iſt er vielleicht ein Atheiſt. Es<lb/>
iſt ein Radikalismus des Denkens, wie man ihn bei<lb/>
keinem andern Volke trifft. Wohl mag ein gut Teil<lb/>
des radikalen und unſteten Charakters zurückzuführen<lb/>ſein auf die knabenhafte Unreife, auf die Unfähigkeit<lb/>
des Sklaven, die ihm ſoeben geſchenkte Freiheit recht<lb/>
zu benützen. Aber im weſentlichen iſt ſie begründet in<lb/>
der Eigentümlichkeit des japaniſchen Denkens.</p><lb/><p>Seiner Form nach iſt dieſes Denken impulſiv d. h.<lb/>ſtoßweiſe, vulkaniſch. Ein Sichvertiefen liebt der Ja-<lb/>
paner nicht; und ſo ausdauernd er in der langwierigſten<lb/>
techniſchen oder experimentierenden Arbeit iſt, ein ſtetiges<lb/>
ruhiges Durchdenken einer Sache iſt ihm zuwider. Die<lb/>
deutſchen Profeſſoren haben ſtets Klage zu führen, wie<lb/>ſchwer es iſt, den Studenten den Begriff der Ent-<lb/>
wicklung und Kauſalität, dieſe Grundlage alles wiſſen-<lb/>ſchaftlichen Erkennens, beizubringen. Warum aber iſt<lb/>
es ſo ſchwer? Weil die Form des japaniſchen Denkens<lb/>
nicht die der ruhigen, langſamen Entwicklung, nicht die<lb/></p></div></body></text></TEI>
[110/0124]
Und dieſe Erfahrung läßt ſich auf allen Gebieten
machen. Nirgends ruhiges Fortſchreiten, überall Sprünge,
das Fallen von einem Extrem in das andere. Während
vor dreißig Jahren der Abſolutismus die einzige poli-
tiſche Anſchauung war, die man kannte, iſt heute das
ganze Volk angeſteckt von den Gedanken der Demokratie.
Während man damals noch auf die Autorität des Buddha
und Konfuzius ſchwor, iſt man es heute gewöhnt, ihrer
zu ſpotten. Während man damals in tiefer Ehrfurcht
zu den Füßen ſeiner Lehrer ſaß und ihren Worten
lauſchte als einer höheren Offenbarung, wird heute der
Lehrer von dem Schüler gemeiſtert. Bekennt ſich heute
einer zu der orthodoxeſten Form des Chriſtentums, wie
er es von dem engherzigſten amerikaniſchen Miſſionar
erhalten hat, morgen iſt er vielleicht ein Atheiſt. Es
iſt ein Radikalismus des Denkens, wie man ihn bei
keinem andern Volke trifft. Wohl mag ein gut Teil
des radikalen und unſteten Charakters zurückzuführen
ſein auf die knabenhafte Unreife, auf die Unfähigkeit
des Sklaven, die ihm ſoeben geſchenkte Freiheit recht
zu benützen. Aber im weſentlichen iſt ſie begründet in
der Eigentümlichkeit des japaniſchen Denkens.
Seiner Form nach iſt dieſes Denken impulſiv d. h.
ſtoßweiſe, vulkaniſch. Ein Sichvertiefen liebt der Ja-
paner nicht; und ſo ausdauernd er in der langwierigſten
techniſchen oder experimentierenden Arbeit iſt, ein ſtetiges
ruhiges Durchdenken einer Sache iſt ihm zuwider. Die
deutſchen Profeſſoren haben ſtets Klage zu führen, wie
ſchwer es iſt, den Studenten den Begriff der Ent-
wicklung und Kauſalität, dieſe Grundlage alles wiſſen-
ſchaftlichen Erkennens, beizubringen. Warum aber iſt
es ſo ſchwer? Weil die Form des japaniſchen Denkens
nicht die der ruhigen, langſamen Entwicklung, nicht die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/124>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.