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Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898.

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Europäern gelesen werden kann, kommt die verborgene
Abneigung zum Vorschein. Hinter der Maske birgt sich
in der Regel ganz etwas anderes. Die Ähnlichkeit mit
Reineke Fuchs ist mitunter eine auffallende. Gerade
wenn er am liebenswürdigsten thut, schmiedet er im
geheimen die Waffen des Verderbens. Wenn er etwas
erreichen will, giebt er Geschenke. Nirgends wird soviel
verschenkt wie in Japan. Wie habe ich mich an Weih-
nachten gefreut, wenn man mir in voller Blüte stehende
Miniaturpflaumenbäumchen in das Haus brachte! Wie
nett sahen sie aus und wie lieblich durchströmte ihr
Duft das Zimmer: Mitten im Winter eine Verheißung
des Frühlings! Es waren Gaben der Dankbarkeit und
der Liebe. Einmal aber, als der Frühling in das Land
gezogen kam, war meine Freude beim Anblick zweier
unter ihnen keine ungetrübte mehr. Da hatte auch ich
die Erfahrung gemacht, daß man durch die Annahme
solcher Geschenke, ohne es zu wissen, die Erlaubnis ge-
geben hat, sich anpumpen oder auf irgend eine andere
Weise über den Löffel barbieren zu lassen. Ich möchte
nicht mißverstanden sein: Ich habe sehr viele Geschenke
erhalten, die in der freundlichsten Absicht ohne jede eigen-
nützigen Hintergedanken gegeben worden sind. Aber im
großen Verkehr werden die Völker stets klug daran thun,
das Wort im Sinne zu tragen: Timeo Danaos et dona
ferentes;
auf gut Deutsch: Wenn der Japaner dir etwas
schenkt, so nimm dich in acht.

Man hat den Japanern Verlogenheit zum Vorwurf
gemacht; man hat gesagt, die Lüge werde nicht einmal
als ein sittlicher Makel betrachtet und empfunden, selbst
der Sprache fehle ein treffendes Wort zur Bezeichnung
der Lüge als eines moralischen Defektes. Japanischer-
seits hat man dagegen erwidert, gerade der Umstand,

Europäern geleſen werden kann, kommt die verborgene
Abneigung zum Vorſchein. Hinter der Maske birgt ſich
in der Regel ganz etwas anderes. Die Ähnlichkeit mit
Reineke Fuchs iſt mitunter eine auffallende. Gerade
wenn er am liebenswürdigſten thut, ſchmiedet er im
geheimen die Waffen des Verderbens. Wenn er etwas
erreichen will, giebt er Geſchenke. Nirgends wird ſoviel
verſchenkt wie in Japan. Wie habe ich mich an Weih-
nachten gefreut, wenn man mir in voller Blüte ſtehende
Miniaturpflaumenbäumchen in das Haus brachte! Wie
nett ſahen ſie aus und wie lieblich durchſtrömte ihr
Duft das Zimmer: Mitten im Winter eine Verheißung
des Frühlings! Es waren Gaben der Dankbarkeit und
der Liebe. Einmal aber, als der Frühling in das Land
gezogen kam, war meine Freude beim Anblick zweier
unter ihnen keine ungetrübte mehr. Da hatte auch ich
die Erfahrung gemacht, daß man durch die Annahme
ſolcher Geſchenke, ohne es zu wiſſen, die Erlaubnis ge-
geben hat, ſich anpumpen oder auf irgend eine andere
Weiſe über den Löffel barbieren zu laſſen. Ich möchte
nicht mißverſtanden ſein: Ich habe ſehr viele Geſchenke
erhalten, die in der freundlichſten Abſicht ohne jede eigen-
nützigen Hintergedanken gegeben worden ſind. Aber im
großen Verkehr werden die Völker ſtets klug daran thun,
das Wort im Sinne zu tragen: Timeo Danaos et dona
ferentes;
auf gut Deutſch: Wenn der Japaner dir etwas
ſchenkt, ſo nimm dich in acht.

Man hat den Japanern Verlogenheit zum Vorwurf
gemacht; man hat geſagt, die Lüge werde nicht einmal
als ein ſittlicher Makel betrachtet und empfunden, ſelbſt
der Sprache fehle ein treffendes Wort zur Bezeichnung
der Lüge als eines moraliſchen Defektes. Japaniſcher-
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[100/0114] Europäern geleſen werden kann, kommt die verborgene Abneigung zum Vorſchein. Hinter der Maske birgt ſich in der Regel ganz etwas anderes. Die Ähnlichkeit mit Reineke Fuchs iſt mitunter eine auffallende. Gerade wenn er am liebenswürdigſten thut, ſchmiedet er im geheimen die Waffen des Verderbens. Wenn er etwas erreichen will, giebt er Geſchenke. Nirgends wird ſoviel verſchenkt wie in Japan. Wie habe ich mich an Weih- nachten gefreut, wenn man mir in voller Blüte ſtehende Miniaturpflaumenbäumchen in das Haus brachte! Wie nett ſahen ſie aus und wie lieblich durchſtrömte ihr Duft das Zimmer: Mitten im Winter eine Verheißung des Frühlings! Es waren Gaben der Dankbarkeit und der Liebe. Einmal aber, als der Frühling in das Land gezogen kam, war meine Freude beim Anblick zweier unter ihnen keine ungetrübte mehr. Da hatte auch ich die Erfahrung gemacht, daß man durch die Annahme ſolcher Geſchenke, ohne es zu wiſſen, die Erlaubnis ge- geben hat, ſich anpumpen oder auf irgend eine andere Weiſe über den Löffel barbieren zu laſſen. Ich möchte nicht mißverſtanden ſein: Ich habe ſehr viele Geſchenke erhalten, die in der freundlichſten Abſicht ohne jede eigen- nützigen Hintergedanken gegeben worden ſind. Aber im großen Verkehr werden die Völker ſtets klug daran thun, das Wort im Sinne zu tragen: Timeo Danaos et dona ferentes; auf gut Deutſch: Wenn der Japaner dir etwas ſchenkt, ſo nimm dich in acht. Man hat den Japanern Verlogenheit zum Vorwurf gemacht; man hat geſagt, die Lüge werde nicht einmal als ein ſittlicher Makel betrachtet und empfunden, ſelbſt der Sprache fehle ein treffendes Wort zur Bezeichnung der Lüge als eines moraliſchen Defektes. Japaniſcher- ſeits hat man dagegen erwidert, gerade der Umſtand,

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Zitationshilfe: Munzinger, Carl: Die Japaner. Berlin, 1898, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/munzinger_japaner_1898/114>, abgerufen am 24.11.2024.