Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite



Character verderbt. Er erklärte diese meine Muthma-
ßung für richtig, und setzte noch hinzu, die Wollust sey
seine Hauptleidenschaft gewesen, die am meisten zu seinem
moralischen Verderben beygetragen haben. "Bey dieser
Neigung Jhres Herzens wollen wir also den Anfang ma-
chen, und untersuchen, zu welchen Sünden sie Sie ver-
führt haben wird."

Die Wollust, fuhr ich fort, ist die ausschwei-
fende Begierde nach sinnlichen Vergnügungen. Sie ist
ausschweifend, wenn der Mensch das Vergnügen un-
mäßig sucht, seine Hauptsache daraus macht, und ver-
gißt, daß es ihm nur zur Herstellung seiner durch die
Arbeit ermüdeten Kräften erlaubt, und auch dann nur
nützlich und ein wahres Vergnügen ist. Sie ist aus-
schweifend, wenn er das Vergnügen in einem solchen
Genusse sucht, der ihm durch göttliche oder menschliche
Gesetze untersagt ist. Sie ist endlich ausschweifend,
wenn sie uns überredet, jedes Mittel, das sie zu ihrer
Befriedigung für dienlich hält, ohne Rücksicht auf die
Moralität desselben anzuwenden.

Er nahm diese Sätze an, ohne Beweis davon
zu fordern, und gestand mir mit vieler Bewegung, seine
Meynung sey immer gewesen, daß er bloß dazu vorhan-
den sey, sich angenehme Empfindungen zu verschaffen.
Darauf habe er alles zurückgebracht, und wenn er ja zu-
weilen etwas Gutes gethan, es nicht als eine Pflicht der
Liebe und des Gehorsams gegen Gott, sondern allein als
ein Mittel zur Beförderung seines Vergnügens beträch-
tet. Jn der ersten Jugend habe er sich blindlings allen
Arten der Ausschweifungen überlassen. Wie er endlich
die Folgen seiner Unordnungen in schmerzhaften Krank-
heiten empfunden hätte, so habe er um das Vergnügen
länger genießen zu können, durch Ordnung und Enthalt-

samkeit



Character verderbt. Er erklaͤrte dieſe meine Muthma-
ßung fuͤr richtig, und ſetzte noch hinzu, die Wolluſt ſey
ſeine Hauptleidenſchaft geweſen, die am meiſten zu ſeinem
moraliſchen Verderben beygetragen haben. “Bey dieſer
Neigung Jhres Herzens wollen wir alſo den Anfang ma-
chen, und unterſuchen, zu welchen Suͤnden ſie Sie ver-
fuͤhrt haben wird.„

Die Wolluſt, fuhr ich fort, iſt die ausſchwei-
fende Begierde nach ſinnlichen Vergnuͤgungen. Sie iſt
ausſchweifend, wenn der Menſch das Vergnuͤgen un-
maͤßig ſucht, ſeine Hauptſache daraus macht, und ver-
gißt, daß es ihm nur zur Herſtellung ſeiner durch die
Arbeit ermuͤdeten Kraͤften erlaubt, und auch dann nur
nuͤtzlich und ein wahres Vergnuͤgen iſt. Sie iſt aus-
ſchweifend, wenn er das Vergnuͤgen in einem ſolchen
Genuſſe ſucht, der ihm durch goͤttliche oder menſchliche
Geſetze unterſagt iſt. Sie iſt endlich ausſchweifend,
wenn ſie uns uͤberredet, jedes Mittel, das ſie zu ihrer
Befriedigung fuͤr dienlich haͤlt, ohne Ruͤckſicht auf die
Moralitaͤt deſſelben anzuwenden.

Er nahm dieſe Saͤtze an, ohne Beweis davon
zu fordern, und geſtand mir mit vieler Bewegung, ſeine
Meynung ſey immer geweſen, daß er bloß dazu vorhan-
den ſey, ſich angenehme Empfindungen zu verſchaffen.
Darauf habe er alles zuruͤckgebracht, und wenn er ja zu-
weilen etwas Gutes gethan, es nicht als eine Pflicht der
Liebe und des Gehorſams gegen Gott, ſondern allein als
ein Mittel zur Befoͤrderung ſeines Vergnuͤgens betraͤch-
tet. Jn der erſten Jugend habe er ſich blindlings allen
Arten der Ausſchweifungen uͤberlaſſen. Wie er endlich
die Folgen ſeiner Unordnungen in ſchmerzhaften Krank-
heiten empfunden haͤtte, ſo habe er um das Vergnuͤgen
laͤnger genießen zu koͤnnen, durch Ordnung und Enthalt-

ſamkeit
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0066" n="54"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Character verderbt. Er erkla&#x0364;rte die&#x017F;e meine Muthma-<lb/>
ßung fu&#x0364;r richtig, und &#x017F;etzte noch hinzu, die Wollu&#x017F;t &#x017F;ey<lb/>
&#x017F;eine Hauptleiden&#x017F;chaft gewe&#x017F;en, die am mei&#x017F;ten zu &#x017F;einem<lb/>
morali&#x017F;chen Verderben beygetragen haben. &#x201C;Bey die&#x017F;er<lb/>
Neigung Jhres Herzens wollen wir al&#x017F;o den Anfang ma-<lb/>
chen, und unter&#x017F;uchen, zu welchen Su&#x0364;nden &#x017F;ie Sie ver-<lb/>
fu&#x0364;hrt haben wird.&#x201E;</p><lb/>
        <p>Die Wollu&#x017F;t, fuhr ich fort, i&#x017F;t die aus&#x017F;chwei-<lb/>
fende Begierde nach &#x017F;innlichen Vergnu&#x0364;gungen. Sie i&#x017F;t<lb/>
aus&#x017F;chweifend, wenn der Men&#x017F;ch das Vergnu&#x0364;gen un-<lb/>
ma&#x0364;ßig &#x017F;ucht, &#x017F;eine Haupt&#x017F;ache daraus macht, und ver-<lb/>
gißt, daß es ihm nur zur Her&#x017F;tellung &#x017F;einer durch die<lb/>
Arbeit ermu&#x0364;deten Kra&#x0364;ften erlaubt, und auch dann nur<lb/>
nu&#x0364;tzlich und ein wahres Vergnu&#x0364;gen i&#x017F;t. Sie i&#x017F;t aus-<lb/>
&#x017F;chweifend, wenn er das Vergnu&#x0364;gen in einem &#x017F;olchen<lb/>
Genu&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ucht, der ihm durch go&#x0364;ttliche oder men&#x017F;chliche<lb/>
Ge&#x017F;etze unter&#x017F;agt i&#x017F;t. Sie i&#x017F;t endlich aus&#x017F;chweifend,<lb/>
wenn &#x017F;ie uns u&#x0364;berredet, jedes Mittel, das &#x017F;ie zu ihrer<lb/>
Befriedigung fu&#x0364;r dienlich ha&#x0364;lt, ohne Ru&#x0364;ck&#x017F;icht auf die<lb/>
Moralita&#x0364;t de&#x017F;&#x017F;elben anzuwenden.</p><lb/>
        <p>Er nahm die&#x017F;e Sa&#x0364;tze an, ohne Beweis davon<lb/>
zu fordern, und ge&#x017F;tand mir mit vieler Bewegung, &#x017F;eine<lb/>
Meynung &#x017F;ey immer gewe&#x017F;en, daß er bloß dazu vorhan-<lb/>
den &#x017F;ey, &#x017F;ich angenehme Empfindungen zu ver&#x017F;chaffen.<lb/>
Darauf habe er alles zuru&#x0364;ckgebracht, und wenn er ja zu-<lb/>
weilen etwas Gutes gethan, es nicht als eine Pflicht der<lb/>
Liebe und des Gehor&#x017F;ams gegen Gott, &#x017F;ondern allein als<lb/>
ein Mittel zur Befo&#x0364;rderung &#x017F;eines Vergnu&#x0364;gens betra&#x0364;ch-<lb/>
tet. Jn der er&#x017F;ten Jugend habe er &#x017F;ich blindlings allen<lb/>
Arten der Aus&#x017F;chweifungen u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en. Wie er endlich<lb/>
die Folgen &#x017F;einer Unordnungen in &#x017F;chmerzhaften Krank-<lb/>
heiten empfunden ha&#x0364;tte, &#x017F;o habe er um das Vergnu&#x0364;gen<lb/>
la&#x0364;nger genießen zu ko&#x0364;nnen, durch Ordnung und Enthalt-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;amkeit</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[54/0066] Character verderbt. Er erklaͤrte dieſe meine Muthma- ßung fuͤr richtig, und ſetzte noch hinzu, die Wolluſt ſey ſeine Hauptleidenſchaft geweſen, die am meiſten zu ſeinem moraliſchen Verderben beygetragen haben. “Bey dieſer Neigung Jhres Herzens wollen wir alſo den Anfang ma- chen, und unterſuchen, zu welchen Suͤnden ſie Sie ver- fuͤhrt haben wird.„ Die Wolluſt, fuhr ich fort, iſt die ausſchwei- fende Begierde nach ſinnlichen Vergnuͤgungen. Sie iſt ausſchweifend, wenn der Menſch das Vergnuͤgen un- maͤßig ſucht, ſeine Hauptſache daraus macht, und ver- gißt, daß es ihm nur zur Herſtellung ſeiner durch die Arbeit ermuͤdeten Kraͤften erlaubt, und auch dann nur nuͤtzlich und ein wahres Vergnuͤgen iſt. Sie iſt aus- ſchweifend, wenn er das Vergnuͤgen in einem ſolchen Genuſſe ſucht, der ihm durch goͤttliche oder menſchliche Geſetze unterſagt iſt. Sie iſt endlich ausſchweifend, wenn ſie uns uͤberredet, jedes Mittel, das ſie zu ihrer Befriedigung fuͤr dienlich haͤlt, ohne Ruͤckſicht auf die Moralitaͤt deſſelben anzuwenden. Er nahm dieſe Saͤtze an, ohne Beweis davon zu fordern, und geſtand mir mit vieler Bewegung, ſeine Meynung ſey immer geweſen, daß er bloß dazu vorhan- den ſey, ſich angenehme Empfindungen zu verſchaffen. Darauf habe er alles zuruͤckgebracht, und wenn er ja zu- weilen etwas Gutes gethan, es nicht als eine Pflicht der Liebe und des Gehorſams gegen Gott, ſondern allein als ein Mittel zur Befoͤrderung ſeines Vergnuͤgens betraͤch- tet. Jn der erſten Jugend habe er ſich blindlings allen Arten der Ausſchweifungen uͤberlaſſen. Wie er endlich die Folgen ſeiner Unordnungen in ſchmerzhaften Krank- heiten empfunden haͤtte, ſo habe er um das Vergnuͤgen laͤnger genießen zu koͤnnen, durch Ordnung und Enthalt- ſamkeit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/66
Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/66>, abgerufen am 23.11.2024.