Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite



Semnons vor, und bat ihn sogleich mir zu sagen, wel-
cher von beyden ihm am besten gefiele. Er erklärte sich
natürlicher weise für den letzten. Sehen Sie hier, sagte
ich, ein Urtheil Jhres moralischen Gefühls oder Jhres
Gewissens. Ob Sie sich gleich in dem Damon zum
Theil müssen erkannt haben, ob sie gleich in diesem Au-
genblicke nicht Zeit gehabt haben beyde Charactere zu
vergleichen, und die Grundzüge derselben nach morali-
schen Grundsätzen zu prüfen, so finden Sie doch gleich,
daß Semnon der bessere Mann ist; und wenn Sie nun
ihr Urtheil regelmäßig untersuchten, so würden Sie ge-
wahr werden, daß es ganz richtig gefällt sey.

Als ich ihm nun hierauf sagte, dieß moralische
Gefühl sey uns angebohren, und gehöre mit zu unsrer
Natur, so mußte ich mich darauf gefaßt halten, Ein-
würfe zu beantworten. Er bezeugte mir hier zwar, daß
er gar keine Lust hätte, welche zu machen, sondern daß
er sich vielmehr aller Zweifel entschlagen wollte. Aber
es erfordre doch unsre Absicht, daß er mir offenherzig
sagte, wovon er nicht überzeugt wäre. Er finde zwar
ein solch moralisches Gefühl bey dem Menschen, aber
ob es ihm angebohren sey, wisse er nicht. Ob es nicht
ein gewisses Vorurtheil seyn könnte? Wie kämen denn
alle Menschen, antwortete ich, zu einem und demselben
Vorurtheil? Wie gienge es denn zu, daß der Laster-
hafte dasselbe Vorurtheil hat, als der Tugendhafte, ob
es gleich seinem Jnteresse so sehr zuwider ist? Denn Sie
wissen der Lasterhafte kann der Tugend doch nicht seinen
innern Beyfall versagen, wenn er ihn gleich nicht äußer-
lich bezeugt. Woher kommt das anders, als von sei-
nem moralischen Gefühl? "So könnte es denn doch
wohl eine Würkung der Erfahrung oder auch der Ge-
wohnheit seyn, die wir Menschen haben, die Handlun-
gen anderer in Beziehung auf uns zu denken." Jch

antwor-



Semnons vor, und bat ihn ſogleich mir zu ſagen, wel-
cher von beyden ihm am beſten gefiele. Er erklaͤrte ſich
natuͤrlicher weiſe fuͤr den letzten. Sehen Sie hier, ſagte
ich, ein Urtheil Jhres moraliſchen Gefuͤhls oder Jhres
Gewiſſens. Ob Sie ſich gleich in dem Damon zum
Theil muͤſſen erkannt haben, ob ſie gleich in dieſem Au-
genblicke nicht Zeit gehabt haben beyde Charactere zu
vergleichen, und die Grundzuͤge derſelben nach morali-
ſchen Grundſaͤtzen zu pruͤfen, ſo finden Sie doch gleich,
daß Semnon der beſſere Mann iſt; und wenn Sie nun
ihr Urtheil regelmaͤßig unterſuchten, ſo wuͤrden Sie ge-
wahr werden, daß es ganz richtig gefaͤllt ſey.

Als ich ihm nun hierauf ſagte, dieß moraliſche
Gefuͤhl ſey uns angebohren, und gehoͤre mit zu unſrer
Natur, ſo mußte ich mich darauf gefaßt halten, Ein-
wuͤrfe zu beantworten. Er bezeugte mir hier zwar, daß
er gar keine Luſt haͤtte, welche zu machen, ſondern daß
er ſich vielmehr aller Zweifel entſchlagen wollte. Aber
es erfordre doch unſre Abſicht, daß er mir offenherzig
ſagte, wovon er nicht uͤberzeugt waͤre. Er finde zwar
ein ſolch moraliſches Gefuͤhl bey dem Menſchen, aber
ob es ihm angebohren ſey, wiſſe er nicht. Ob es nicht
ein gewiſſes Vorurtheil ſeyn koͤnnte? Wie kaͤmen denn
alle Menſchen, antwortete ich, zu einem und demſelben
Vorurtheil? Wie gienge es denn zu, daß der Laſter-
hafte daſſelbe Vorurtheil hat, als der Tugendhafte, ob
es gleich ſeinem Jntereſſe ſo ſehr zuwider iſt? Denn Sie
wiſſen der Laſterhafte kann der Tugend doch nicht ſeinen
innern Beyfall verſagen, wenn er ihn gleich nicht aͤußer-
lich bezeugt. Woher kommt das anders, als von ſei-
nem moraliſchen Gefuͤhl? “So koͤnnte es denn doch
wohl eine Wuͤrkung der Erfahrung oder auch der Ge-
wohnheit ſeyn, die wir Menſchen haben, die Handlun-
gen anderer in Beziehung auf uns zu denken.„ Jch

antwor-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0054" n="42"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
Semnons vor, und bat ihn &#x017F;ogleich mir zu &#x017F;agen, wel-<lb/>
cher von beyden ihm am be&#x017F;ten gefiele. Er erkla&#x0364;rte &#x017F;ich<lb/>
natu&#x0364;rlicher wei&#x017F;e fu&#x0364;r den letzten. Sehen Sie hier, &#x017F;agte<lb/>
ich, ein Urtheil Jhres morali&#x017F;chen Gefu&#x0364;hls oder Jhres<lb/>
Gewi&#x017F;&#x017F;ens. Ob Sie &#x017F;ich gleich in dem Damon zum<lb/>
Theil mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en erkannt haben, ob &#x017F;ie gleich in die&#x017F;em Au-<lb/>
genblicke nicht Zeit gehabt haben beyde Charactere zu<lb/>
vergleichen, und die Grundzu&#x0364;ge der&#x017F;elben nach morali-<lb/>
&#x017F;chen Grund&#x017F;a&#x0364;tzen zu pru&#x0364;fen, &#x017F;o finden Sie doch gleich,<lb/>
daß Semnon der be&#x017F;&#x017F;ere Mann i&#x017F;t; und wenn Sie nun<lb/>
ihr Urtheil regelma&#x0364;ßig unter&#x017F;uchten, &#x017F;o wu&#x0364;rden Sie ge-<lb/>
wahr werden, daß es ganz richtig gefa&#x0364;llt &#x017F;ey.</p><lb/>
        <p>Als ich ihm nun hierauf &#x017F;agte, dieß morali&#x017F;che<lb/>
Gefu&#x0364;hl &#x017F;ey uns angebohren, und geho&#x0364;re mit zu un&#x017F;rer<lb/>
Natur, &#x017F;o mußte ich mich darauf gefaßt halten, Ein-<lb/>
wu&#x0364;rfe zu beantworten. Er bezeugte mir hier zwar, daß<lb/>
er gar keine Lu&#x017F;t ha&#x0364;tte, welche zu machen, &#x017F;ondern daß<lb/>
er &#x017F;ich vielmehr aller Zweifel ent&#x017F;chlagen wollte. Aber<lb/>
es erfordre doch un&#x017F;re Ab&#x017F;icht, daß er mir offenherzig<lb/>
&#x017F;agte, wovon er nicht u&#x0364;berzeugt wa&#x0364;re. Er finde zwar<lb/>
ein &#x017F;olch morali&#x017F;ches Gefu&#x0364;hl bey dem Men&#x017F;chen, aber<lb/>
ob es ihm angebohren &#x017F;ey, wi&#x017F;&#x017F;e er nicht. Ob es nicht<lb/>
ein gewi&#x017F;&#x017F;es Vorurtheil &#x017F;eyn ko&#x0364;nnte? Wie ka&#x0364;men denn<lb/>
alle Men&#x017F;chen, antwortete ich, zu einem und dem&#x017F;elben<lb/>
Vorurtheil? Wie gienge es denn zu, daß der La&#x017F;ter-<lb/>
hafte da&#x017F;&#x017F;elbe Vorurtheil hat, als der Tugendhafte, ob<lb/>
es gleich &#x017F;einem Jntere&#x017F;&#x017F;e &#x017F;o &#x017F;ehr zuwider i&#x017F;t? Denn Sie<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en der La&#x017F;terhafte kann der Tugend doch nicht &#x017F;einen<lb/>
innern Beyfall ver&#x017F;agen, wenn er ihn gleich nicht a&#x0364;ußer-<lb/>
lich bezeugt. Woher kommt das anders, als von &#x017F;ei-<lb/>
nem morali&#x017F;chen Gefu&#x0364;hl? &#x201C;So ko&#x0364;nnte es denn doch<lb/>
wohl eine Wu&#x0364;rkung der Erfahrung oder auch der Ge-<lb/>
wohnheit &#x017F;eyn, die wir Men&#x017F;chen haben, die Handlun-<lb/>
gen anderer in Beziehung auf uns zu denken.&#x201E; Jch<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">antwor-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[42/0054] Semnons vor, und bat ihn ſogleich mir zu ſagen, wel- cher von beyden ihm am beſten gefiele. Er erklaͤrte ſich natuͤrlicher weiſe fuͤr den letzten. Sehen Sie hier, ſagte ich, ein Urtheil Jhres moraliſchen Gefuͤhls oder Jhres Gewiſſens. Ob Sie ſich gleich in dem Damon zum Theil muͤſſen erkannt haben, ob ſie gleich in dieſem Au- genblicke nicht Zeit gehabt haben beyde Charactere zu vergleichen, und die Grundzuͤge derſelben nach morali- ſchen Grundſaͤtzen zu pruͤfen, ſo finden Sie doch gleich, daß Semnon der beſſere Mann iſt; und wenn Sie nun ihr Urtheil regelmaͤßig unterſuchten, ſo wuͤrden Sie ge- wahr werden, daß es ganz richtig gefaͤllt ſey. Als ich ihm nun hierauf ſagte, dieß moraliſche Gefuͤhl ſey uns angebohren, und gehoͤre mit zu unſrer Natur, ſo mußte ich mich darauf gefaßt halten, Ein- wuͤrfe zu beantworten. Er bezeugte mir hier zwar, daß er gar keine Luſt haͤtte, welche zu machen, ſondern daß er ſich vielmehr aller Zweifel entſchlagen wollte. Aber es erfordre doch unſre Abſicht, daß er mir offenherzig ſagte, wovon er nicht uͤberzeugt waͤre. Er finde zwar ein ſolch moraliſches Gefuͤhl bey dem Menſchen, aber ob es ihm angebohren ſey, wiſſe er nicht. Ob es nicht ein gewiſſes Vorurtheil ſeyn koͤnnte? Wie kaͤmen denn alle Menſchen, antwortete ich, zu einem und demſelben Vorurtheil? Wie gienge es denn zu, daß der Laſter- hafte daſſelbe Vorurtheil hat, als der Tugendhafte, ob es gleich ſeinem Jntereſſe ſo ſehr zuwider iſt? Denn Sie wiſſen der Laſterhafte kann der Tugend doch nicht ſeinen innern Beyfall verſagen, wenn er ihn gleich nicht aͤußer- lich bezeugt. Woher kommt das anders, als von ſei- nem moraliſchen Gefuͤhl? “So koͤnnte es denn doch wohl eine Wuͤrkung der Erfahrung oder auch der Ge- wohnheit ſeyn, die wir Menſchen haben, die Handlun- gen anderer in Beziehung auf uns zu denken.„ Jch antwor-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/54
Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/54>, abgerufen am 22.11.2024.